Zum Konzertabend am 9. Dezember 1968 in Hamburg


     Süddeutsche  Zeitung, 11. Dezember 1968     

    

"Das Floß der Medusa" - gestrandet

Premiere des Oratoriums von Hans Werner Henze in Hamburg

[...]

Henze gab bekannt, man möge nicht in frischem Hemd oder gar im Smoking kommen, erschien aber selbst nicht in einer APO-Ausstattung. Und weil er selber nicht mehr der Allerjüngste ist, ließ er langhaarige Freunde vor Beginn des Konzerts das Dirigentenpodium schmücken: mit dem Bild Che Guevaras, dem die Komposition gewidmet ist, mit einem billigen Transparent, auf dem das Wort "Revolutionär" stand, mit einer roten und einer schwarzen Fahne. Ein großer Teil des Publikums und dann die Chöre, voran der gastierende RIAS-Chor, protestierten. Musiker verließen das Podium, weil sie nicht vor einer roten Fahne singen wollten. Fischer-Dieskau winkte gelangweilt ab und verschwand.

Henze rief, man möge das Konzert beginnen lassen, und wollte den Auftakt geben. Doch die Chöre verließen nun geschlossen das Podium. Auch Henze ging. Der stellvertretende Intendant des Norddeutschen Rundfunks, Freiherr von Hammerstein, nahm als Veranstalter die Fahnen weg und bat, sich zu setzen, damit man beginnen könne. Als einige Jugendliche die Plätze nicht einnahmen, erschien die Polizei und warf die Demonstranten hinaus, obwohl es Henze war, der die rote Fahne wünschte. Ein APO-Mann rief diese Tatsache verzweifelt in den Raum. Und jetzt ging erst dem Publikum das Licht auf.

[...]

Wer nun das "Floß der Medusa" kennenlernen wollte, drehte das Radio auf, aus dem die Komposition in Form eines Generalprobenmittschnitts tönte, als ob nichts geschehen wäre.

[...]

Unter Henzes Leitung sangen Edda Moser, stimmschön bis in extreme Lagen, Fischer-Dieskau mit jenem Pathos, das die Noten suggerierten, zugleich mit jenem Engagement vom Geistigen her, das die Musik so bedauerlich deutlich vermissen läßt. Die Chöre des NDR unter Helmut Frantz, des RIAS, (Günter Arndt) und der Knabenchor Sankt Nikolai (Horst Sellentin), sowie das Funkorchester ließen keine Wünsche offen. Möglich, daß ein anderer Dirigent die klanglichen Konturen geschliffener und härter profiliert hätte, als es Henze gelang, der sich hier, wie er in einem Interview erklärte, auf seine Emotionen ohne Distanzierung verlassen wollte. Er wurde verlassen und strandete wie seine Medusa.

Wolf Eberhard von Lewinski

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     "Musik und Bildung", Schott-Verlag,  März 1969     

    

Hamburg

Skandal im Konzertsaal

Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa"

    

Der Aufruhr, dessen Stimmen man aus der Komposition zu hören erwartet hatte, brach los, noch bevor einziger Ton erklungen war. Doch nicht nur im Saal kam es zum Aufstand, vom Podium rief es ihm Antwort: Der Berliner RIAS-Kammerchor, zur Mitwirkung an der Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa" nach Hamburg verpflichtet, erhob seine Stimme nicht singend, wie geplant, sondern rufend. Unüberhörbar erklärten die Sänger, sie würden an einem Konzert unter roter Fahne nicht teilnehmen. In der ausbrechenden Diskussion verließen sie das Podium. Der Eklat war da, die Verwirrung vollkommen.

Dabei schien sich diese Henze-Premiere, zu der das Publikum vom NDR, in dessen Auftrag das Werk entstanden war, in eine Halle von "Planten un Blomen" geladen worden war, zunächst in nichts von den Henze-Soireen des letzten Jahrzehnts zu unterscheiden. Das gleiche Publikum wie immer: die Karawane der in- und ausländischen Musikkritik, von nah und fern herangezogen, die Potentaten des Musikbetriebs, sendelustig sie alle; die Musik-Society voll gepflegten Interesses.

Unter ihnen aber, mit der Arbeit Henzes nicht erst seit heute vertraut, ein paar Dutzend neue Gesichter: die Neuankömmlinge mit der Lust zur Revolution; einer Revolution allerdings, die sie sich wohl nicht gerade von der Musik erwarteten. Sie versuchten daher, der Aufführung eine optische Ouvertüre voranzustellen. An ihr kenterte "Das Floß der Medusa".

Einige junge, Leute, schmückten, Henzes Dirigentenpult mit einem Porträt Guevaras. Man entfernte es wieder. Sie kamen mit einem Transparent zurück, das nichts weiter als die Aufschrift "revolutionär" trug, und garnierten es mit. einer roten Fahne und einem weiteren "Che"-Bild. Das Pult wurde zur Kanzel, als solle nun von ihr herab musikalisch gepredigt werden. Dazu aber kam es nicht mehr. Der Debatten überdrüssig. zogen sich die Solisten, Edda Moser und Dietrich Fischer-Dieskau, vom Podium wieder in die Künstlerzimmer zu- rück. Das Konzert wurde ausgesetzt.

Nach Verhandlungen mit den Chören und dem Orchester verkündete der stellvertretende Intendant des NDR, die Aufführung könnte nur stattfinden, wenn die Fahne des Anstoßes eingezogen würde. Er kassierte die Embleme. Einige junge Leute versuchten. sie ihm zu entwinden. In diesem Augenblick zog überraschend ein Polizeitrupp ein, griff die Diskutanten vom Podium und schleifte sie im Mittelgang durch den Saal. Sieben Personen wurden festgenommen - unter ihnen der Librettist des Werkes, Ernst Schnabel, den man durch eine zersplitternde Glastür stieß. Henze protestierte vom Podium gegen das Eingreifen der Polizei, der NDR gab bekannt, daß die Veranstaltung beendet sei, da Henze darauf bestehe, unter der roten Fahne zu dirigieren. Als das Publikum später nach dem Komponisten rief, um mit ihm - nun wohl ernsthaft - zu diskutieren, hatte Henze den Saal schon verlassen. Mit einem Rechtsanwalt für die sechs Festgenommenen erschien er bei der Polizei. Sie wurden freigelassen. Gegen Mitternacht war auch Ernst Schnabel wieder auf freiem Fuß.

Es Ist wahrscheinlich das erste Mal, daß sich Musiker dem Versuch widersetzten, ein Konzert zu einer Demonstration umzufunktionieren, an der sie nicht teilhaben wollen. Sie alle waren sich wohl einig mit einer Erklärung des "Arbeitskreises SoziaIistischer Musikstudenten", die auf einem Flugblatt verteilt wurde. Darin heißt es: "Wir bejahen es, wenn (Henzes) Engagement für die Veränderung der Gesellschaft sich in seiner Musik manifestiert." Darüber hinaus aber wollten sich die zur Aufführung verpflichteten Musiker kein politisches Engagement aufzwingen lassen. Wozu der Arbeitskreis Sozialistischer Musikstudenten Henze aufforderte, "zu helfen, die autoritäre Struktur der Orchester und des Musikbetriebes überhaupt zu zersetzen und den Musikern ein neues kritisches Bewußtsein (zu) vermitteln" - das nahmen die Musiker sofort In Angriff. Sie setzten die Forderung um in die Tat - auch wenn diese Tat den Eiferern nicht schmecken wird. Sie können an Ihrer eigenen Forderung leicht ersticken.

Das Konzert, das vom NDR direkt übertragen werden sollte, fand nicht statt, aber dennoch ging es über den Sender: Man spielte eine Tonbandaufzeichnung der Generalprobe ab. Die Uraufführung wurde vollzogen, auf die Sendung kann sich das Urteil über das neueste Werk Henzes stützen.

In 75 Minuten geben Henze und Ernst Schnabel einen. oratorischen Bericht vom Schicksal einiger hundert Menschen, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Frankreich (und die Welt) erschütterte. In anklagenden Flugschriften und Büchern wurden damals die grausamen Fakten vom Untergang der Fregatte "Medusa" bekanntgemacht, die auf dem Wege zum Senegal Schiffbruch erlitt. Im Stich gelassen von den Kommandierenden, trieben Besatzung, die mitreisende Mannschaft und die armseligen Passagiere auf einem rohgezimmerten Floß auf hohe See hinaus, ihrem Schicksal überlassen, das nichts anderes als den Tod bringen konnte.

Nur wenige Überlebende wurden schließlich geborgen: sie "kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen". Diese Schlußzelie des Librettos aber ist ziemlich die einzige, die sich direkt zur gesellschaftsverändernden Aktion bekennt. Henze greift ihren Ton auf und führt seine Komposition mit einem marschähnlich sich beschleunigenden Rhythmus ohne besonderen deklamatorischen Aufwand zu Ende. Die Revolution findet nicht Im Stück, sie findet in der Zukunft statt.

Schnabel hat den Text aus kühlem Bericht, selbstausgebrütetem prosaischem Lyrismus und Dante-Zitaten aus der "Commedia" collageartig montiert. Er verteilt ihn auf drei Rollen: die eines "Sprechers", der sich als Charon zu erkennen gibt; die des Jean-Charles, der gewissermaßen das Kommando über das Floß übernimmt (Fischer-Dieskau singt sie); im dramaturgischen Bunde mit ihnen ist als Dritter der Tod. Doch da es in der Besetzung an einem Sopran mangelte, tritt er - gut cocteauisch - als Madame La Mort in Erscheinung, In Schnabels Libretto wird für Gutgebildete gestorben, in geschmackvoller Sprache auf deutsch und italienisch. Was weiß die Straße von Dante? Ihr Ruf dringt nicht hinauf in diese kunstgewerblich ästhetiesierende Welt. "Belehrt von Wirklichkeit" - das können die Personen, die Schnabels Libretto und die gräßliche Meerfahrt überlebt haben, im Grunde nicht sein.

Dieser Text erweist sich für die Komposition des Ganzen als nicht tragfähig. Er läßt Henze im Stich, aber Henze versucht, ihn zu überspielen. Das gelingt ihm am besten im ersten Teil, der zügig ausgreifend die Exposition gibt. Später, wenn es an das große Sterben geht, mündet die Komposition leicht verflachend ins Benedeien, den "Gesang der Abgeschiedenen", in dem Henze nicht mehr mit gleicher frischer Inspiration bei der Sache ist. Einige Großformen wie die "Fuge der Überlebenden", eine weitausgreifende Chaconne-Gestalt, schwimmen floßgleich, nummernartig im Ozean einer empfindungsreichen, aber allzu ausgedehnten, lyrisch eingefärbten Monotonie.

Die musikalischen Höhepunkte liegen im ersten Teil des Werkes. Da zeigt sich Henze wieder als Meister einer kompositorischen Dramatik, die ihn als den geborenen Opernkomponisten ausweist, den Mann mit dem schier untrüglichen Instinkt für die wechselnde Szene, die er in schnellem Zugriff musikalisch aufzureißen vermag. Seine außerordentliche Könnerschaft in der packenden Schilderung von Situationen, Charakteren, Ereignissen machen den ersten Teil seines Oratoriums zu einem der spannendsten Stücke der zeitgenössischen Musik.

Das sehr große Instrumentarium wird weit auf das Podium ausgebreitet. Von der starken Bläsergruppe führt ein mit reichstem Schlagwerk bestücktes Ensemble zu den Streichern hinüber. Hinter dem Orchester wechselt der Chor der "Lebenden" im Verlauf der Aufführung allmählich auf die andere Seite, die Seite der "Toten", hinüber. Stereophonische Wirkungen werden dramaturgisch genutzt.

Die glänzend vorbereitete Aufführung unter Henzes eigener Leitung führte als Solisten Dietrich Fischer-Dieskau und Edda Moser an die Rampe. als Sprecher Charles Regnier, der die ihm mitunter vorgeschriebenen Rhythmen und Tonhöhen bestechend in die Deklamation einbezog, die Schärfe und Nüchternheit klug verband. Fischer-Dieskau sang seinen Part mit höchster Eindringlichkeit und unselbstgefälligem Wohlklang: eine makellose Interpretation. Edda Moser meisterte die weiten Intervallsprünge, die kunstvoll gebauten musikalischen Phrasen ihrer Partie mit klingender Intensität. Die Chöre, das Orchester bewiesen, wenn sie nicht gerade aus berechtigtem Anlaß streikten, ihre Souveränität. Sie haben sie nun auch auf außermusikalischem Gebiet überzeugend nachgewiesen.

Klaus Geitel


    

     Westfalenpost, Hagen, 11. Dezember 1968     

     

Skandal um Henze und zwei Fahnen

Tumulte verhindern Uraufführung in Hamburg / Fischer-Dieskau protestierte

     

Zu einem handfesten Skandal, an dem der Komponist selbst nicht unerheblichen Anteil hatte, artete am Montagabend im Hamburger Veranstaltungswerk "Planten und Blomen" die geplante Uraufführung des Oratoriums "Das Floß der Medusa" von Hans Werner Henze aus. Sieben Jugendliche und der Text-Autor des Oratoriums, der renommierte Schriftsteller Ernst Schnabel, wurden vorübergehend festgenommen. Schnabel hatte versucht, die Festnahme der Jugendlichen zu verhindern.

Nach Angaben der Polizei waren kurz vor Konzertbeginn etwa zehn SDS-Mitglieder in den mit 900 zumeist prominenten Zuhörern besetzten Saal marschiert und hatten Flugschriften verteilt. Mit Sprechchören und Pfiffen hätten sie den Beginn der Veranstaltung verhindert. Ein Sprecher des Norddeutschen Rundfunks, der das Werk in Auftrag gegeben hatte und die Aufführung direkt übertragen wollte, erklärte, die Jugendlichen hätten eine rote und eine schwarze Fahne sowie ein Bild des kubanischen Revolutionärs Che Guevara, dem Henze sein Werk gewidmet hat, am Dirigentenpult angebracht. Nach Protesten mehrerer Chormitglieder und des Solisten Dietrich Fischer-Dieskau seien Fahnen und Bild entfernt worden. Daraufhin habe sich Henze, der die Aufführung selbst leitete, geweigert, ohne die Fahnen zu dirigieren.

Der stellvertretende NDR-Intendant Hammerstein rief schließlich nach einer halben Stunde die Polizei, nachdem nach seinen Angaben feststand, daß ein geordneter Ablauf der Aufführung nicht mehr zustande käme. Bei dem anschließenden Handgemenge mit den Jugendlichen wurde nach Angaben der Polizei ein Polizist leicht verletzt. Henze erklärte nach Abbruch der Veranstaltung, er sei von Hammerstein daran gehindert worden, eine Erklärung abzugeben. Henze, der sich selbst zu den Ideen Che Guevaras bekennt, betonte weiter, die Polizei habe eine Diskussion mit den Demonstranten verhindert.

"Das Floß der Medusa", das vom Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahre 1816 handelt, schildert das Schicksal der Schiffsbesatzung nach dem Bericht von 14 Überlebenden. Für die Uraufführung waren als Solisten Edda Moser (Sopran), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) und Charles Regnier (Sprecher) engagiert worden.

Autor unbekannt

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