Zum Konzert am 10. Februar 1969 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin, 12. Februar 1969

Interessante Kontraste

Maazel mit dem RSO – Bamberger Symphoniker unter Kempe

Mahlers Bild der "Himmlischen Freuden" erschien in der Konfrontation mit Johann Sebastian Bachs "Kreuzstab"-Kantate gebrochener, parodistischer, zugleich naiver und sehnsüchtiger denn je – eine Programmgestaltung Lorin Maazels mit dem Radio-Symphonieorchester, deren gedankliche Interessantheit beim Hören erstaunen machte. Musikalische Vollkommenheit, Vollendung einer Epoche, die uns mit dem Dur-Schluß eines Moll-Chorals Geborgenheit in ewiger Seligkeit anschaulich macht, begegnete der individuellen Größe an der Schwelle der Moderne, die sich der Sprache der Narren und Kinder bedient, um ihres persönlichen Zweifelns Herr zu werden. Ein verklärender Sopran wie der Elfriede Trötschels konnte einst mit dieser Musik wohl Höheres verheißen als in dem irdisch orientierten Wunderhorn-Lied steht. Diese Aufführung nach der Bach-Kantate schien mit der zuverlässig jubilierenden Solistin Agnes Giebel wie eine Bestätigung Adornos: "Unerreichbar bleibt Freude, und keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht."

Lorin Maazel dirigierte die Vierte mit Leidenschaft und Klarheit, die Mahlersche Melodie immer wieder auf ihre Haltbarkeit, ihre Charakteristik prüfend. Es war eine Wiedergabe der Distanz und Identifizierung zugleich, der Härte und Eleganz. Daß auch Maazels Gedächtnis nicht Übermenschliches leistet, bekundeten bei diesem Abonnementskonzert mit den hervorragend disponierten Radio-Symphonikern nicht nur die bei allen Stücken auf dem Pult liegenden Partituren, sondern auch gelegentliche kleine Unachtsamkeiten des Dirigenten. Sie fielen nicht ins Gewicht, denn es war, wie angedeutet, ein Programm der geistigen Auseinandersetzung, nicht der Interpreten-Schau. Gemeinsam war nämlich allen aufgeführten Werken, den als Auftakt gespielten "Sechs Stücken für großes Orchester" Opus 6 von Webern wie auch der Bach-Kantate und der Mahler-Symphonie, daß sie sich dem, was man unter Musikbetrieb versteht, eigentlich entzogen.

Zumal mit der so facettenreichen wie leisen Interpretation Dietrich Fischer-Dieskaus wirkte die "Kreuzstab"-Kantate wie ein intimer Dialog zwischen dem Sänger und dem Orchester, auch seinem Solo-Oboisten Günther Passin. Beglücktes Enteilen der Seele schilderten die hüpfenden Koloraturen der rasch und leicht genommenen Arie "Endlich wird mein Joch...": Fischer-Dieskau hatte bei aller Korrektheit Nuancen ohnegleichen. Der getragene Choral "Komm, o Tod, du Schlafes Bruder", vom RIAS-Kammerchor kompetent gesungen, war mit den souverän ausdirigierten Pausen zwischen den Verszeilen typisch für den Bach-Stil Lorin Maazels. Die Matinee im Großen Sendesaal des Funkhauses brachte allen Mitwirkenden großen Beifall ein.

Sybill Mahlke

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