Zum Liederabend am 17. April 1969 in Bonn


Generalanzeiger, Bonn, 19./20. April 1969

Das Kunstlied hat ihn wieder

Fischer-Dieskau sang Schumann in der Beethovenhalle

Frisch und ausgeruht, stimmlich in denkbar bester Verfassung begann Dietrich Fischer-Dieskau dieser Tage in der Beethovenhalle mit einem Liederabend eine ausgedehnte Deutschlandtournee, die ihn bis Mitte Mai in dreizehn Groß- und Mittelstädte führen wird. Was seine letzten Schallplattenaufnahmen schon erkennen ließen, bestätigte sich hier sehr nachdrücklich: der Verzicht des Opernsängers auf alle Bühnenauftritte, den er seit einem Jahr praktiziert, scheint dem Liedersänger Fischer-Dieskau entschieden zugute gekommen zu sein. Und zwar im Sinne eines Neudurchdenkens der Frage einer optimalen "Interpretation" des romantischen Kunstliedes, das heißt des bestmöglichen Einsatzes der stimmlich-technischen Mittel und der geistig-gestalterischen Intelligenz zur Vergegenwärtigung hochempfindlicher Kunstgebilde. Wo früher jedenfalls bei Fischer-Dieskau beides, eminente Technik und hohe musikalische Intelligenz, sich manchmal in manieristischer Überinterpretation totzulaufen drohten, ist heute wieder Natürlichkeit letztliches Kriterium; statt des bloß artifiziellen Effekts eines souverän beherrschten herrlichen Organs erscheint Vergeistigung der Ausdrucksallmacht einer phänomenal schönen Stimme wieder höchstes Kunstziel, ist Seele in den Gesang wieder eingezogen.

Für den Bonner Abend hatte der Künstler von den zwei Tourneeprogrammen (Lieder nach Goethe, Schumann-Lieder) das reine Schumann-Programm gewählt, eine geschickte Zusammenstellung aus keineswegs den populärsten Stücken des Meisters mit dem Liederkreis, op. 24, als gewichtigem Mittelpunkt, weiteren fünf Heine-Liedern nach der Pause und einem Ausklang nach Geibel-Texten. Jedenfalls bot die Auswahl beste Gelegenheit, die eminente Breite der Ausdrucksskala des Gestalters und die phänomenale Universalität des Sängers Fischer-Dieskau wieder einmal zu erfahren. Unter dem Aspekt des eingangs allgemein Gesagten wäre im Detail hervorzuheben, daß eben auch das Pathetische oder Bravouröse, zu dem Schumann sich ja häufig aufschwingt (wenn ihn etwa die "spanischen" Vorlagen Geibels dazu auffordern), keine irgendwie geartete Operngeste aufgesetzt bekommt. Das heißt nicht, daß dramatische Kraft oder auch deklamatorische Virtuosität gänzlich ausgeschaltet blieben, im Gegenteil. Aber gerade hier wurde die ungemeine Kunst Fischer-Dieskaus wohl besonders deutlich, Übergänge, dynamische Wechsel ohne Forcierung zu gestalten, scheinbar mühelos und wie traumhaft sicher gegensätzliche Charaktere sozusagen in einer einzigen Phrase zu definieren.

Eigentlich war die Entscheidung über die außerordentliche Qualität dieses Abends bereits im ersten Lied, der "Widmung" nach Rückert, gefallen, war schon hier alles geglückt, die differenzierte Nuancierung von Lust und Trauer, Helle und Dunkelheit, war gewissermaßen in drei Minuten die ganze Thematik und musikalisch überhöhte Antithetik Schumannschen Liederkomponierens aufgerissen. Der Rest brachte dann "nur" noch die Erfüllung dieses hohen Versprechens. Und auch hier schon war Günther Weißenborn der ideale Mitspieler und Mitgestalter am Klavier; rücksichtsvoll, doch immer selbständig, mit erlesenster Anschlagkunst und luzider Tonbildung stellte er die bedeutenden Klaviersätze bereit. Die Zuhörer dieses Konzerts, mit dem Rabofsky seine Liederabend-Reihe dieser Saison zu wirklich glückhaftem Abschluß brachte, waren begeistert und bereiteten den Künstlern ausgedehnte Ovationen, die mit Zugaben (weiter Schumann: "Du bist wie eine Blume", "Es rauschen die Wipfel" usw.) belohnt wurden.

Hans G. Schürmann


  

     Bonner Rundschau (?), Datum unbekannt     

  

Von höchster Sensibilität

Schumann-Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Beethovenhalle

    

Wer vermag es, das Publikum, das so gern durch Vertrautes verwöhnt sein will, einen ganzen Abend lang mit Schumann-Liedern zu fesseln? Und nicht einmal die "Dichterliebe", nicht der Eichendorff-Kreis, die ja einigermaßen "populär" sind, sondern selten gehörte Heine-Lieder, "Aus dem Spanischen" und andere Kostbarkeiten mehr, die ihr Museumsdasein auf der Schallplatte fristen müßten, gäbe es ihn nicht, diesen Dietrich Fischer-Dieskau, der es sich erlauben kann, Programme ohne Zugeständnis an irgendeinen "Geschmack" zusammenzustellen.

Daß sein Name allein genügt, die Beethovenhalle bei diesem Rabofsky-Sonderkonzert zu füllen, auch ohne daß das Programm vorher im Detail bekannt war, mag die Lästerer über den "Personenkult" auf den Plan rufen, doch bürgt dieser Name schon seit langem nicht nur für sängerische, sondern auch für musikalische Qualität (was wieder einmal bewiesen wurde).

Schumanns Liederwelt also war das Motto, und man verrät kein Geheimnis mehr, wenn man feststellt, daß die echt romantische Spannung von literarisch bewußter Textausdeutung und frei ausgreifender musikalischer Phantasie in ihren jeweils höchst verschiedenen Ausprägungen Fischer-Dieskaus feinem Gespür auf beiden Gebieten in fast idealer Weise entspricht. Es ist nicht in Kürze zu beschreiben, wie exakt er jeder kleinsten Stimmungsschwankung zu folgen vermag, die immense Breite seiner Darstellungsmittel ausnutzend..

Entgegen anderslautenden Meinungen muß betont werden, daß Fischer-Dieskau dennoch zu allererst Sänger ist, und zwar ein so perfekter Sänger, daß man das Sängerische kaum mehr gewahr wird: Es steht so sehr im Dienst seiner Vortragskunst, daß es manchmal geradezu "überhört" werden kann. Die wogende Linie in "Schöne Wiege meiner Leiden" so glatt und ohne Bruch auszusingen, als geschehe es in einem Atemzug, ist ohne seine phänomenale Atemtechnik undenkbar. Aus jeder der 23 Programmnummern könnte man einen speziellen Wesenszug erkennen, deren Mosaik die Vielseitigkeit eines Künstlers beschriebe, der dennoch so unverwechselbar ist wie kaum ein anderer. Nicht hoch genug einzuschätzen bleibt aber auch die Begleitung Günther Weißenborns, der Schumanns poesievollen Klaviersatz mit gleichem Kunstverstand zum Klingen brachte, besonders eindrucksvoll in "Mein Wagen rollet langsam".

Fischer-Dieskau, der sich von Anbeginn gleich mit "Widmung" in bester "Form" zeigte und mit sich steigernden Ovationen gefeiert wurde, brachte noch sechs (!) Zugaben, um die Begeisterung zu befriedigen, darunter nun auch so bekannte Stücke wie die "Mondnacht" – welche Vereinigung von Melodie und Poesie! – oder "Erstes Grün".

Gunter Duvenbeck

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