Zum Liederabend am 19. April 1969 in Wuppertal


Generalanzeiger der Stadt Wuppertal, 21. April 1969

Goethes Lyrik in der Sprache der Musik

Dietrich Fischer-Dieskau umjubelter Gast im Wuppertaler Meisterkonzert

Seit vielen Jahren kommt er nun in fast regelmäßigen Abständen in die Wuppertaler Stadthalle, und immer wieder darf er eines dichtbesetzten Saales wie der hellen Begeisterung von jung und alt gewiß sein: Dietrich Fischer-Dieskau. Dabei macht es der Sänger seinen Hörern nicht gerade leicht; er verlangt von ihnen seit je Konzentration auf einen oder zwei Komponisten, auf geschlossene Liedgruppen oder wie jetzt in Rudolf Wylachs 9. Meisterkonzert – auf Goethe.

Goethes Lyrik durchs Sprachrohr der Musik: das ist in erster Linie eine Aufgabe für einen geistig gestaltenden Musiker. Mit Schöngesang allein ist es nicht getan, obwohl der Schmelz dieser runden, bruchlos gleitenden, jede dynamische Stufe vom hauchzart schwebenden Pianissimo bis zur strahlkräftig angespannten Fülle meisternden Baritonstimme Verzauberung genug bewirkt.

Fischer-Dieskau hält sich zur Zeit von der Bühne fern, aber die dort gesammelten Erfahrungen wurden und werden dem Liedvortrag nutzbar gemacht, ohne daß deshalb aufdringliches Theatralisieren sich breit machte (es störte mich lediglich das rhythmische Kopfzucken bei einigen Nachspielen). Schuberts "Erlkönig", klassisches Beispiel einer Ballade, dürfte kaum suggestiver und plastischer nachvollzogen werden können. Wie die Charakterisierung der vier Stimmen (des Erzählers, des Vaters, des Kindes, des Geistes) in die wild vorüberjagende Vision eingebunden wurden, ist einzigartig. Überhaupt die Gruppe der vier Schubert-Lieder, in der das überschäumende Lebensgefühl des Sturm-und-Drang-Dichters ("An Schwager Kronos") hart kontrastierte zu Stille, Einsamkeit, Verlassenheit; "Meeres Stille" erklang wie ein einziger langgezogener, weltentrückter Ton mit nur gedämpft, aber unheimlich genug angehobenem "fürchterlich".

Fischer-Dieskau ist bei aller Gesamtschau ein Meister der Nuance, sei sie nun eine verspielte Koloratur, die hörbare Geste eines beseligten Weintrinkers (in Schumanns wenig bekannten Liedern aus dem "West-Östlichen Divan"), das dem jungen Goethe von Busoni lautmalerisch nachempfundene Spukgeheul des "Zigeunerlieds" oder die humorvoll aufgelockerte Dämonie des "Rattenfängers" (Hugo Wolf).

Beethoven fehlte nicht – wie anders näherte er sich dem Überschwang des jungen Goethe ("Wie herrlich leuchtet") als Schubert, wie kostete er aber auch skurrilen Humor aus (im zugegebenen "Flohlied" aus dem "Faust"). Seltenes von Strauss, Reger, Schoeck war zu hören. Und wann werden sonst Stücke aus dem ersten Stadium des Klavierliedes gesungen, aus Goethes unmittelbarem Freundeskreis zumal, komponiert von der Weimarer Herzogin Anna Amalia, Johann Friedrich Reichardt und Karl Friedrich Zelter?

Es war ein Bildungs- und Kunsterlebnis zugleich, das uns der begnadete und intelligente Sänger bescherte, am Flügel gleichwertig mit seinem Partner Günther Weißenborn begleitet. Der Jubel war groß. Erst nach einer halben Stunde, reich gewürzt mit Zugaben, leerte sich der Saal.

Mhf.

zurück zur Übersicht 1969
zurück zur Übersicht Kalendarium