Zum Liederabend am 27. April 1969 in Stuttgart


     Stuttgarter Zeitung, 2. Mai 1969     

Variationen über Lyrisches

 Fischer-Dieskau singt Goethe-Lieder in der Liederhalle

    

Nachdem Dietrich Fischer-Dieskau hier letztes Jahr mit einer Liederfolge aufgetreten war, die sich mit Robert Schumann auf einen einzigen Komponisten beschränkte, dafür aber eine Reihe verschiedener Dichter zu Wort kommen ließ, wandte er jetzt den umgekehrten Grundsatz an in einem Programm, das ausschließlich Goethesche Lyrik, diese jedoch in Vertonungen durch nicht weniger als zwölf Komponisten brachte.

Nun wird aber der Charakter des einzelnen Kunstliedes, so stark dieses jeweils auch vom Literarischen mitgeformt wird, doch in erster Linie vom musikalischen Element bestimmt. Und so war nicht ohne weiteres zu erwarten, daß sich eine derartige Fülle unterschiedlicher Kompositionsstile, wie sie das diesjährige Programm des Sängers enthielt, zu einer wirklichen künstlerischen Einheit zusammenfassen ließe. Um so überraschender war der Eindruck dieses Abends.

So weit entfernt auch - um gleich äußerste Gegensätze zu nennen - Kompositionen wie das noch ganz im Generalbaßstil gehaltene "Auf dem Lande und in der Stadt" der Herzogin Anna Amalia einerseits und Gesänge wie "Anakreons Grab" oder "Der Rattenfänger" von Hugo Wolf andererseits in ihrer künstlerischen Ausdrucksweise auseinanderliegen mochten: der ganz außerordentlichen, von höchster Musikalität und Intelligenz zugleich geprägten Gestaltungskraft Fischer-Dieskaus gelang es, seine Hörer in einer so sicher gezeichneten Linie durch die Zeiten zu führen, daß die Vielgestalt der sich aneinander reihenden Stile widerspruchslos aufzugehen schien in der ihnen gemeinsamen dichterischen Sphäre.

Fast zu sehr. Denn in diesen unübertrefflichen Interpretationen kündigte sich doch auch etwas von der Gefahr aller Vollendung an: manchmal hatte man den Eindruck, daß der Sänger seine Aufgabe zu mühelos bewältigte. Schuberts "Erlkönig" - eine schlechthin vollkommene gesangliche Leistung, aber wurde man dabei wirklich von den Schauern des Dämonischen gepackt? Von der zauberhaften Ruhe des Liedes "An den Mond", vom geheimnisvollen Pianissimo in "Meeres Stille" konnte man sich jedenfalls noch tiefer berührt fühlen. Und so sehr an diesem Abend wieder Fischer-Dieskaus Fähigkeit, die ganze Skala seiner unerschöpflichen Ausdrucksmittel in nur wenigen Takten Musik zu durchlaufen, in Erstaunen versetzte: dem klassischen Stil Beethovens schien solche Virtuosität (wie sie sich zum Beispiel an der Stelle "Diese liebliche Gestalt" aus "Neues Leben, neue Liebe" äußerte) doch weniger zu entsprechen als etwa gewissen musikalischen Uebersteigerungen Hugo Wolfs.

Mit diesem Komponisten befand sich der Künstler dann auch in seinem ureigensten Reich: alles, was er, davor schon bei Schumann und Brahms, bei Strauss, Schoeck, Reger und Busoni hatte anklingen lassen, faßte er hier schließlich zu einem ganzen Kosmos musikalischer Charakterisierungskunst zusammen.

Und da zeigte sich dann auch, noch viel mehr. als bisher, das vielseitige Können Günther Weißenborns, eines ausgezeichneten Pianisten, der dem Sänger nicht nur ein sicherer Begleiter, sondern ein selbständig gestaltender Partner war. Es wäre eigentlich überflüssig, hinzuzufügen, daß das Konzert Dietrich Fischer-Dieskaus mit dem Schluß des Programmes noch nicht zu Ende war. Das aber, was man an diesem Abend im Beethovensaal an Beifall und an Zugaben erlebte, überstieg jedes bisher gewohnte Maß.

Wilhelm Riekert

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     Stuttgarter Nachrichten, 29. April 1969     

    

Lieder nach Goethe

Gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau

    

Ob es eine Statistik vermerkt, weiß ich nicht, aber höchstwahrscheinlich wurde kein anderer Lyriker so oft vertont wie Goethe, und sicher keiner musikalisch so gehaltvoll. Im Werk der drei größten aller Liedmeister, Schubert, Schumann und Hugo Wolf, bilden Goethe-Lieder schöpferische Schwerpunkte, selbst von den genialen Heine-Kompositionen Schuberts und Schumanns, dem Mörike-Zyklus Wolfs nicht übertroffen. Es war ein schöner Gedanke, des gefeiertsten Liedsängers unserer Zeit würdig, Goethe zum Leitstern eines ganzen Abends zu machen. Ihn lockte, nach eigenen Worten, "die weite Skala musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein durch Goethes Sprache gegeben ist".

Dieses Programm ist in einer historisch-didaktischen Auswahl verwirklicht. Sie reicht von Goethe-Zeitgenossen bis zu Ferruccio Busoni und Schoeck und umschließt die wesentlichen Goethe-Vertoner dieser Zeitspanne. Dennoch befriedigt sie nicht ganz. Fischer-Dieskau - wer sonst als er! - hätte es sich leisten können, auch einige Stichproben aus der Liedgegenwart von heute zu bringen. Das Goethe-Werk Hermann Reutters hätte sich beispielsweise angeboten; mit Othmar Schoeck historisch zu schließen (übrigens mit einer lyrischen Perle, "Dämmerung senkte sich") heißt doch, die Spur von Goethe-Nachwirkung vorzeitig zu verlassen. Daß der große Liedkenner auch im historischen Teil Tiefenreisen auswich und sich mit gefälligerem Gelände begnügte, muß wohl in irgendeinem Plan gelegen haben. Die Gesänge aus Wilhelm Meister fehlten, Prometheus, die Grenzen der Menschheit und vieles andere Wesentliche; Erlkönig, An den Mond und Wanderers Nachtlied deuteten es nur an. Ich stelle mir vor, ein junger Mensch, für den Goethe bisher Lesebuchpflichtstoff war, hätte sich nach dieser Auswahl einen Begriff von Goethe machen wollen: Wäre er davon überzeugt worden, er habe es mit dem größten Lyriker der deutschen Sprache zu tun?

Offenbar verfuhr Fischer-Dieskau nach dem Rat des verkappten Theaterdirektors Goethe, wonach manchem etwas bringt, wer vieles bringt. Wobei unter dem Vielen die Buntheit der Aspekte, vom Tragischen bis zum Komischen, als Positivum hervorragt, Nichtigkeiten wie "Gleich und Gleich" mit seinen Blumenglöckchen und Bienchen wohl den wackeren Zelter, Goethes musikalisches Orakel, ironisieren sollten. In dieser Gruppe der zeitgenössischen Vertoner lernte man mit der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar, der Mutter von Goethes regierendem Freund, die älteste Goethe-Komponistin kennen; die aristokratische Dame vertonte einen der vielen Singspieltexte, mit denen sich Goethe um die deutsche Musikbühne bemühte, schrieb eine Symphonie und verriet mit der vorgeführten Vertonung nicht nur handwerkliches Können, sondern auch, im symbolischen Dur-Moll-Wechsel der Strophen, Gespür für das zukunftsweisende Moderne, Romantische im Spätrokoko. Schumann hingegen erschien mit den drei Proben aus dem West-östlichen Diwan unterbelichtet, Schubert und Wolf schließlich auch, Richard Strauss mit der Preziosität des "Gefunden"-Liedes gar als Salonkomponist zitiert.

Nichts von dem, was den Auswähler Fischer-Dieskau kritisiert, betrifft den Sänger. Er präsentierte sich seinem Publikum, das den Beethoven-Saal bis in improvisierte Podiumsplätze füllte und enthusiastisch nach vorn drängend Zugaben erzwang, in bester Form. Vergessen schien alle Salzburger Wotan-Problematik. Hier herrschte er als König der Liedsänger. Bisweilen mit dramatischer Attitüde: So etwa, wenn er nach Beethovens "Neue Liebe, neues Leben" trotzig aufbegehrend den Kopf hochwirft, aber das wirkt nicht effektheischend, sondern als Ausdruck leibseelischer Einheit des Singens. Der Belkantist straft seine Kritiker Lügen mit der Kunst von mezza voce und legato (Schuberts "Füllest wieder"), der dramatische Sänger brilliert mit der geradezu atemraubenden Interpretation des "Erlkönigs" - hier zeigt sich Günther Weissenborn, der insgesamt tadelfreie Partner am Klavier, auch als Tastenvirtuos, unermüdet die Triolenrhythmen hämmernd und zugleich nuancierend - der hochexpressive Wünschelrutengänger von Liedlyrik Fischer-Dieskau besticht ebenso als Humorist, wenn er Busonis "Zigeunerlied", diese witzige Karikatur von Dämonie, oder Wolfs "Rattenfänger" auf die feine Grenzscheide von schönem und sprechendem Gesang führt. Der Wiedererwecker des deutschen Klavierliedes bleibt eine Ausnahmeerscheinung.

Kurt Honolka

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