Zum Konzert am 18. Mai 1969 in Freiburg


Badische Zeitung, Freiburg, Datum unbekannt

Musikalische Andacht zu Goethe

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Die meisten unserer Liedersänger und Liedersängerinnen pflegen ihren Zuhörern einen bunten Strauß von Liedkompositionen beliebter und gern gehörter Weisen vorzusetzen, die ihnen liegen und allgemeiner Zustimmung gewiß sind.

Dietrich Fischer-Dieskau macht es ganz anders. Er setzt Musik und Text, Komposition und Vertonung einander gleich, ja es ist bei ihm so, daß das Gedicht in vielen Fällen den Vorrang hat vor dem, was der Komponist, der Vertoner dazu getan hat.

Und das vor allem, wenn der Dichter Goethe heißt, wie es an dem ereignisreichen Abend in der Freiburger Stadthalle der Fall war. Dietrich Fischer-Dieskau, nicht nur ein begnadeter Sänger, sondern auch ein intimer Kenner der Dichtung, ein "wissender Sänger", hat erkannt und in die Praxis umgesetzt, daß ein dichterisch konzipiertes "Lied" und die entsprechende Komposition im Idealfall eine Einheit bilden und in dieser auch vorgetragen, interpretiert werden muß.

In diesem hohen Zeichen und als musikalische Andacht zu Goethes Lyrik stand auch sein Abend in der Freiburger Stadthalle, der die Tausende von Hörern zu Begeisterungsstürmen hinriß. Am Beginn des Abends stand beziehungsreich eine Komposition der Anna Amalie "Auf dem Land und in der Stadt", die auf den Ursprung des Liedes aus dem Singspiel hinweist. Zwei Goethe-Zeitgenossen und Freunde waren mit dem trotzig-kraftvollen "Feiger Gedanken bängliches Schwanken" von Johann Friedrich Reichardt und der zierlich-ariosen Vertonung "Ein Blumenglöckchen" von Carl Friedrich Zelter vertreten. Diese frühen "Versuche" löste Beethoven mit seinem "Mailied" und "Neue Liebe, neues Leben" markant ab. Auch wenn Goethe selbst Schubert-Vertonungen ablehnte - er ist doch der genialste Goethe-Interpret. "An den Mond", "Schwager Kronos", der "Erlkönig" und mit weitem Abstand die von Fischer-Dieskau im völlig einzigartigem und so nie wiederholbaren Piano wiedergegebene "Meeresstille" war der Höhepunkt des an Höhepunkten reichen Abends. Feruccio Busonis "neuer Stil" offenbarte, demonstriert an dem temperamentvollen "Zigeunerlied", neue Aspekte, Robert Schumann, Johannes Brahms bereicherten wirkungsvoll die Goethe-Palette, während Richard Strauss mit seiner Vertonung "Gefunden" eine seiner Stilrichtung entsprechende feinsinnige Deutung verwirklicht, Othmar Schoeck eine stimmungsgesättigte Goethe-Deutung gefunden hat und Max Reger in seiner etwas schroffen Art die "Einsamkeit" kongenial vertonte.

Mit allen diesen divergierenden und zum teil doch recht gegensätzlichen musikalischen Auslegungen und Deutungen Goethescher Lyrik hat sich Dietrich Fischer-Dieskau auf das genaueste auseinandergesetzt, sie künstlerisch bewältigt und uns allen einen Liederabend von einzigartiger Größe beschert.

H. R.

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