Zum Liederabend am 31. Juli 1969 in München



     

         Süddeutsche Zeitung, 2./3. August 1969     

Fischer-Dieskaus seltener Schubert

      

So wichtig können Lieder werden: Auch an der Wirkungsgeschichte des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau ließe sich die deutsche Nachkriegsgeschichte exemplifizieren. Da war ein junger Sänger, der bereits zu Beginn der fünfziger Jahre zum berühmtesten Liedinterpreten der Welt wurde, der mit phänomenal sensibler Musikalität und Stimmbeherrschung den typisch deutschen Gegenstand "Lied" und - als Inbegriff einer wiedererstehenden Nation - unsere Nachkriegskultur mit Hilfe von Konzertreisen und Schallplatten über den Erdball hin populär machte. Doch der Expansionsdrang dieses Künstlers war offenbar so groß, daß er sich nicht damit begnügen wollte, gefeierter Liederabendstar zu sein. Er eroberte eine Opernrolle nach der anderen, sein Spieltemperament steigerte sich, musikdramatischer Vergegenwärtigungsdrang schlug freilich auf die Liedinterpretation zurück. Als er noch absolutes "Idol" war, stand in dieser Zeitung im August 1960 eine Besprechung, die "Fischer-Dieskau am Scheideweg" hieß und umfassenden Unmut hervorrief.

Fischer-Dieskau, Sangesheld der fünfziger Jahre, mußte dann in den sechziger Jahren, obwohl oder vielleicht gerade weil er nicht nur auf dem Konzertpodium, sondern auch in Bayreuth und Salzburg, in Matthäus-Passionen und modernen Opern brillierte, mancherlei Rückschläge, manche geradezu hysterische Anti-Fischer-Dieskau-Kritik hinnehmen. Zum Tiefpunkt geriet wohl sein Versuch, unter Karajan in Salzburg den Wotan zu singen. Viele Vorwürfe, die gewiß noch immer nicht verstummt sind, liefen damals, kurz gesagt, auf Stimmschwäche und Manierismus hinaus. Ob diese Vorwürfe im einzelnen berechtigt waren oder nicht, darf niemand zu entscheiden wagen. Daß die Kritik an Fischer-Dieskau jedoch nicht nur musikalische Gründe hatte, sondern auch einem allzu Etablierten galt, war unüberhörbar.

Dabei stellte er doch wirklich gerade das nicht dar, was man einen seine Erfolge geldgierig reproduzierenden, selbstsicheren Virtuosen nennen könnte. Im Gegenteil: seine Neugier, seine intellektuelle Eroberungslust ist so groß, daß er immer wieder andere, neue entlegene Liedkomponisten ausgräbt und kultiviert, daß er Modernes singt, Bücher schreibt, daß er es leid ist, als winterreisender Müllersbursche sein Glück zu machen. Auch sein jüngster Münchner Schubert-Abend bestätigte das: Statt der zunächst angekündigten "Schönen Müllerin" sang Dietrich Fischer-Dieskau, der übrigens eine Gesamtaufnahme sämtlicher Schubertschen plant, siebzehn Schubert-Lieder, von denen gewiß ein Dutzend kaum je öffentlich erklang.

Wir lernten wiederum einen gewandelten Fischer-Dieskau kennen. Statt mit unangemessener Theatralik zu verblüffen, wirkte er völlig ruhig, konzentriert, sachbezogen. Die Vernunft und Plausibilität seiner Artikulation stellt jedes Lied so klar und präzise dar, daß man kaum mehr des Sängers gedenkt, sondern sogleich mit Schubert konfrontiert ist, mit Gesängen zwischen Todessehnsucht und reinem, manchmal wild quellendem, natürlichem Impuls. Die Lieder sind keineswegs alle gleich stark. Manchmal hat selbst Schubert den allzu harmlosen, wenn nicht gar spießigen Texten drittklassiger Lyriker nichts allzu Erhebendes abgewinnen können. Aber es waren natürlich auch unter den vielen unbekannten Stücken Lieder von größter Gewalt, Wie "Die Götter Griechenlands" oder "Der Wanderer" (von Friedrich Schlegel, nicht zu verwechseln mit "Ich komme vom Gebirge her" des Schmidt von Lübeck).

Beim "Prometheus" spürte man, daß Fischer-Dieskaus Stimme, möglicherweise dank seiner Opernerfahrungen, an Gewalt und Ausdruckskraft durchaus gewonnen hat; die oft singulär feinsinnige Phrasierung, mit der er so stille Lieder wie "Der Kreuzzug" oder, bei der Zugabe, "Im Abendroth" gestaltete, enthebt ihn nach wie vor aller Konkurrenz. Es gibt niemanden, der solche Stücke reiner, konzentrierter, ergreifender zu singen versteht. Trotz des überaus anstrengenden Programms herrschte im Herkulessaal höchste Spannungsstille.

Und was gab es nicht, von relativ schwächeren Liedern wie "Auf der Riesenkoppe" einmal abgesehen, alles' zu erfühlen und zu erfahren! So beginnt Schubert beispielsweise in dem Schiller-Fragment aus "Die Götter Griechenlands" mit der gleichen Wendung (auch tonartgleichen), mit der das Menuett aus dem a-Moll-Quartett anfängt, was dann doch wohl Rückschlüsse auch auf die Intention dieses Quartetts ermöglicht. Wenn dann zu den Versen "Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur!" der Mozart-Kenner Schubert das Andante-grazioso-Thema aus Mozarts F-Dur-Divertimento (KV 247) zitiert, und später das Finale der Arpeggione-Sonate, allerdings weitläufiger, anspielt, dann wird ein solches Meisterwerk zugleich zum Kompendium musikalischer Erfahrung. Fischer-Dieskau, von dem hochmusikalisch, nur manchmal etwas sehr zurückhaltend korrespondierenden Jörg Demus begleitet, vermag das alles zu realisieren. Niemand kommt ihm da gleich.

Aber auch Einwände sind denkbar, die sich freilich kaum handgreiflich formulieren lassen und ans Schubert-Geheimnis rühren. Wenn Fischer-Dieskau im gegebenen Rahmen des Piano und Mezzo die melodische Linie verwirklicht und ein wenig differenziert, dann geschehen spirituelle Wunder. Doch wenn er die stets bestehende Spannung zwischen Text und Ton zugunsten des deklamierten Textes aufhebt - also die Worte ernster nimmt als die melodische Linie -, dann zerstört er um des Lyrikausdrucks willen den Musikausdruck. Beim Schubert-Lied ist indessen nicht der Text das Höchste. Zwei Beispiele für diese Gefahr der Deklamationsmanier: Bei "Im Frühling" setzt er nach der überwältigend beginnenden Melodie "Still sitz' ich an des Hügels Hang, der Himmel ist so klar" die folgenden Töne "Das Lüftchen spielt im grünen Thal" mit den dazugehörenden Sechzehnteln allzu luftig und deutlich ab. Die Melodiekurve zerbricht, der Eindruck des "Luftigen" überwiegt, und das erst danach vorgeschriebene Schubertsche "ppp" wird sinnlos. Genauso bedenklich ist es bei "Der Wanderer an den Mond", die herrlich schreitende, melancholische Melodie aufzubrechen dadurch, daß "Wir wandern beide rüstig zu" allzusehr aufs rüstig zielt, was nicht nur von der folgenden Zeile, sondern auch vom melodischen Gestus widerlegt wird. Immer, wenn Fischer-Dieskau solche einzelnen Worte und Eindrücke - wie ein Schauspielregisseur - hervorhebt, wenn er dunkle Wendungen plötzlich ins Forte nimmt, wenn er mit Artikulation die Melodie zersprengt, übertreibt, zerbricht, dann zerfallen die Lieder, und es stellt sich ein Moment des übermäßig Feinsinnigen ein, das dem natürlichen Schubertschen Genius schadet. Gewiß, das sind Nuancen, aber wann, wenn nicht bei Schubert, wo die Natur gleichsam selbst zu ihrer traurigen, quellenden Sprache kommt, hätte es so sehr Sinn, das Gras wachsen zu hören? Überwältigter Beifall.

Joachim Kaiser


  

         Münchner Merkur, 2. August 1969     

   

Schubert-Lieder bei den Münchner Festspielen

Hauptsache: Fischer-Dieskau

   

Welcher Festivalfan hätte sich nicht bei der Vorschau-Lektüre der Münchner Festspiele den Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus dick angekreuzt, um dann im Laufschritt zur Kasse zu eilen. Daß der große Sänger statt des angekündigten Zyklus "Die schöne Müllerin" dann eine lange Reihe anderer Schubertlieder aufs Programm setzte, dürfte kaum jemanden enttäuscht haben.

Hauptsache: seine Stimme zu hören, gleichgültig, welchen Schubert auch immer sie bringt. Nebensächlich auch, daß Fischer-Dieskau Gesänge auswählte, die zwischen 1819 und 1828 entstanden sind (es sei denn, er wollte versteckt auf das bedeutungsvolle Jahr 1819 hinweisen, in dem ein mutiger Sänger - Franz Jäger hieß er - zum erstenmal die Öffentlichkeit mit einem Schubertlied bekanntmachte).

Fischer-Dieskau hat selber die gültigen Maßstäbe gesetzt, an denen heute jeder Schubertinterpret gemessen wird. Im Endeffekt - und gelegentlich wohl auch zu seinem Leidwesen - ist er davon selbst mitbetroffen.

Das vorausgesetzte Nonplusultra an künstlerischer Realisation kann auch er bei einer Konzertaufführung schwerlich immer bis in jede Einzelheit mit absoluter Gewißheit erreichen. Sinnlos also, schwächere Momente hervorzuheben, zumal Fischer-Dieskaus außerordentliche künstlerische Intelligenz auch jene Lieder sicher im Griff hatte, denen das Fluidum des spontanen Erlebens diesmal um eine Spur versagt blieb.

Höhepunkte des Abends waren die wehmütig oder heiter gefärbten Lieder: etwa "Der Kreuzzug", "Der Winterabend", "Die Vögel" oder das Fragment aus Schillers "Die Götter Griechenlands", wunderbar schlicht gesungen im modulationsreichen mezza-voce-Zauber.

Jörg Demus am Flügel begnügte sich allzu beflissentlich mit der Rolle eines behutsamen Begleiters, tupfte seinen Part mit viel linkem Pedal zwar sehr differenziert aus, aber doch nicht plastisch genug, um mit dem Sänger zu jener wechselseitig sich belebenden und steigernden Partnerschaft zu finden, ohne die eine vollkommene Schubertinterpretation nicht denkbar ist.

Freigebig bescherte Fischer-Dieskau dem jubelnden Publikum im Herkulessaal mit sieben kostbaren Zugaben noch einen halben Liederabend dazu.

Helmut Lohmüller


   

         Abendzeitung, München, 1. August 1969     

      

Mit Trabant zum Erfolg

   

Im Rahmen der Münchner Festspiele sang Dietrich Fischer-Dieskau Lieder von Franz Schubert aus den Jahren 1819 bis 1828. Am Flügel: Jörg Demus.

Fischer-Dieskau ist ein Phänomen. Das haben zwar schon viele gesagt, ohne daß sich dadurch dieses Phänomen verringert hätte. Die Mitte unseres Jahrhunderts gehört auf dem Sektor Lied einem einzigen Manne: Fischer-Dieskau. Um ihn herum Trabanten, mit persönlichem Profil zwar, aber eben Trabanten. Er allein prägt in unseren Jahren das Wissen und Fühlen, was mit dieser Kunstgattung und in ihr angefangen werden kann. Dieser unbestreitbare und singuläre Rang ist ihm nicht mehr zu nehmen.

Jahr für Jahr bestätigt man ihm, daß er nun auf der Höhe seines Erfolges, seines Könnens sei. Und er weiß seine Stellung zu nützen, ruht sich nicht auf Erfolgsnummern aus, serviert eine zweite Programmhälfte, die fast ausschließlich aus Mezzopiano und Klang gewordener Beschaulichkeit besteht, aus Schubertliedern, die so leicht Gartenlaube sein könnten und vielleicht sogar sind - nur nicht bei Fi-Di.

Über Jörg Demus gäbe es viel zu sagen, nicht nur, daß er erst im zweiten Teil ein adäquater, nicht nur ein leiser Partner war.

Mit sieben Zugaben zollte das Idol seinen freundlichen Tribut an das begeisterte Publikum.

Helmut Lesch

__________________________________

        

     Aus dem Buch "Erlebte Musik – Teil 2" von Joachim Kaiser     

    vom 2. August 1969

Dietrich Fischer-Dieskau

     

Wir lernten wiederum einen gewandelten Fischer-Dieskau kennen. Statt mit unangemessener Theatralik zu verblüffen, wirkte er völlig ruhig, konzentriert, sachbezogen. Die Vernunft, die Plausibilität seiner Artikulation stellt jedes Lied so klar und präzise dar, daß man kaum mehr des Sängers gedenkt, sondern sogleich mit Schubert konfrontiert ist, mit Gesängen zwischen Todessehnsucht und reinem, manchmal wild quellendem, natürlichem Impuls. Die Lieder sind keineswegs alle gleich stark. Manchmal hat selbst Schubert den allzu harmlosen, wenn nicht gar spießigen Texten drittklassiger Lyriker nichts allzu Erhebendes abgewinnen können. Aber es waren natürlich auch unter den vielen unbekannten Stücken Lieder von größter Gewalt, wie "Die Götter Griechenlands" oder "Der Wanderer" (von Friedrich Schlegel, nicht zu verwechseln mit "Ich komme vom Gebirge her" des Schmidt von Lübeck).

Beim "Prometheus" spürte man, daß Fischer-Dieskaus Stimme, möglicherweise dank seiner Opernerfahrungen, an Gewalt und Ausdruckskraft durchaus gewonnen hat; die oft singulär feinsinnige Phrasierung, mit der er so stille Lieder wie "Der Kreuzzug" oder, bei der Zugabe, "Im Abendroth" gestaltete, enthebt ihn nach wie vor aller Konkurrenz. Es gibt niemanden, der solche Stücke reiner, konzentrierter, ergreifender zu singen versteht. Trotz des überaus anstrengenden Programms herrschte im Herkulessaal höchste Spannungsstille.

Und was gab es nicht, von relativ schwächeren Liedern wie "Auf der Riesenkoppe" einmal abgesehen, alles zu erfühlen und zu erfahren! So beginnt Schubert beispielsweise in dem Schiller-Fragment aus "Die Götter Griechenlands" mit der gleichen Wendung (auch tonartgleichen), mit der das Menuett aus dem a-Moll-Quartett anfängt, was dann doch wohl Rückschlüsse auch auf die Intention dieses Quartetts ermöglicht. Wenn dann zu den Versen "Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur!" der Mozart-Kenner Schubert das Andante-grazioso-Thema aus Mozarts F-Dur-Divertimento (KV 247) zitiert und später das Finale der Arpeggione-Sonate, allerdings weitläufiger, anspielt, dann wird ein solches Meisterwerk zugleich zum Kompendium musikalischer Erfahrung. Fischer-Dieskau, von dem hochmusikalisch, nur manchmal etwas sehr zurückhaltend korrespondierenden Jörg Demus begleitet, vermag das alles zu realisieren. Niemand kommt ihm da gleich.

Aber auch Einwände sind denkbar, die sich freilich kaum handgreiflich formulieren lassen und ans Schubert-Geheimnis rühren. Wenn Fischer-Dieskau im gegebenen Rahmen des Piano und Mezzo die melodische Linie verwirklicht und ein wenig differenziert, dann geschehen spirituelle Wunder. Doch wenn er die stets bestehende Spannung zwischen Text und Ton zugunsten des deklamierten Textes aufhebt – also die Worte ernster nimmt als die melodische Linie -, dann zerstört er um des Lyrikausdrucks willen den Musikausdruck. Beim Schubert-Lied ist indessen nicht der Text das Höchste. Zwei Beispiele für diese Gefahr der Deklamationsmanier: Bei "Im Frühling" setzt er nach der überwältigend beginnenden Melodie "Still sitz’ ich an des Hügels Hang, der Himmel ist so klar" die folgenden Töne, "Das Lüftchen spielt im grünen Thal", mit den dazugehörenden Sechzehnteln allzu luftig und deutlich ab. Die Melodiekurve zerbricht, der Eindruck des "Luftigen" überwiegt, und das erst danach vorgeschriebene Schubertsche ppp wird sinnlos. Genauso bedenklich ist es, bei "Der Wanderer an den Mond" die herrlich schreitende, melancholische Melodie aufzubrechen dadurch, daß "Wir wandern beide rüstig zu" allzusehr auf "rüstig" zielt, was nicht nur von der folgenden Zeile, sondern auch vom melodischen Gestus widerlegt wird. Immer wenn Fischer-Dieskau solche einzelnen Worte und Eindrücke – wie ein Schauspielregisseur – hervorhebt, wenn er dunkle Wendungen plötzlich ins Forte nimmt, wenn er mit Artikulation die Melodie zersprengt, übertreibt, zerbricht, dann zerfallen die Lieder, und es stellt sich ein Moment des übermäßig Feinsinnigen ein, das dem natürlichen Schubertschen Genius schadet. Gewiß, das sind Nuancen, aber wann, wenn nicht bei Schubert, wo die Natur gleichsam selbst zu ihrer traurigen, quellenden Sprache kommt, hätte es so sehr Sinn, das Gras wachsen zu hören? Überwältigender Beifall.

zurück zur Übersicht 1969
zurück zur Übersicht Kalendarium