Zum Konzert am 12. September 1969 in Düsseldorf


Rheinische Post, Düsseldorf, 13. September 1969

Steigerung bis zum "Hexensabbat"

Das erste städtische Sinfoniekonzert unter Rafael Frühbeck de Burgos in der Rheinhalle

Rafael Frühbeck de Burgos begann sein viertes Düsseldorfer Generalmusikdirektorenjahr. Die Rheinhalle war beim ersten städtischen Sinfoniekonzert ausverkauft: Dietrich Fischer-Dieskau sang Gustav-Mahler-Lieder. Die bewegende Darbietung war freilich umrahmt von Programmnummern, mit denen Reisedirigenten gern Blendwerk treiben und Kassenerfolge herausschlagen.

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Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" stammen aus seinen Jugendjahren. Er hat sie frei nach "Des Knaben Wunderhorn" reichlich sentimental und salbungsvoll gedichtet, scheinbar auch so vertont – und an Fischer-Dieskau sind ähnliche Tendenzen ab und zu früher auch kritisiert worden. Nichts davon trat indessen nun ein. Die ganz nach innen gewandte Melancholie der Mahler-Gesänge, ihr zeitweilig tonangebender verklärter Optimismus fanden in der Sängerstimme ungetrübten Widerhall. Die Besorgnisse verflogen, die nach den verschiedenen Opern-Absagen Fischer-Dieskaus aufgekommen waren: Edler, inniger und ehrlicher kann man sich die vielfach auf Piano oder Pianissimo abgestimmten Liedpartien nicht gesungen denken. Frühbecks Musiker stellten sich mit einer schlank liniierten Vortragsweise, Tempowechsel geschmeidig auffangend, auf ihren großen Solisten ein.

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Dankbarer, langer Beifall nach allen drei Stücken des Abends.

H. v. Lüttwitz


  

     Düsseldorfer Nachrichten, 13. September 1969     

  

Grauen und Verzweiflung

Frühbeck de Burgos und Fischer-Dieskau im ersten Sinfoniekonzert

   

Die "Phantastische Symphonie" von Hector Berlioz stand zusammen mit dem "Sacre du printemps" von Igor Strawinsky auf dem Programm des ersten Konzertes von Jean Martinon als Düsseldorfer Musikdirektor. "Beide waren Genies", so begründete der Franzose seine Zusammenstellung, "die eine neue Epoche der Musik eingeleitet haben". Berlioz’ chef d’oeuvre, das Werk eines Siebenundzwanzigjährigen, wurde jetzt zwar von Martinons Nachfolger, Rafael Frühbeck de Burgos, zu Beginn seiner vierten Düsseldorfer Spielzeit aus Anlaß des 100. Todestages des Komponisten aufgeführt, er aber hätte die Nachbarschaft mit Gustav Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen" auch damit rechtfertigen können, daß beide überragende Meister der Instrumentation gewesen sind.

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Musikalischer und geistiger Höhepunkt des Konzerts war aber dennoch die Interpretation der "Lieder eines fahrenden Gesellen" von Gustav Mahler durch Dietrich Fischer-Dieskau. Welche Parallelen zu Berlioz! Auch das Werk des Dreiundzwanzigjährigen beruht auf einem Liebeserlebnis, auch mit ihm werden auf einmal alle seelischen Kräfte und künstlerischen Ausdrucksmittel provoziert. In der "Phantastischen" wie im Liederzyklus ist die Richtung, ja fast die ganze Entwicklung beider Komponisten vorweggenommen, den angeschlagenen Grundakkord werden sie nicht mehr aufgeben.

Wenn von Fischer-Dieskau nichts bliebe als die Erinnerung an diese Mahler-Gesänge, würde sein Ruhm als Sänger und Musiker die kommenden Jahrzehnte durchstrahlen. Ohne seine Intelligenz ist die typisch Mahlersche Mischung von Naivität, scheinbarer Einfachheit und Gebrochenheit nicht zu treffen. Hier wird schon mehr als ein privates Erlebnis dargestellt. Die Orchesterbegleitung spricht überdeutlich von einer Welt, die ins Wanken geraten ist, von Abgründen, Höllenqualen und tiefsten Erschütterungen. Schöngesang verbindet Fischer-Dieskau bei diesen Nachtstücken mit fesselloser Expression, mit einer Wildheit des Ausdrucks, die uns erschauern macht. So war Mahler zumute, als er die Lieder schrieb, so wollte er seine Gefühle übertragen wissen. Eine überwältigende Leistung, gestützt und gesteigert vom feinsinnigen und kraftvollen Kontrapunktieren des Orchesters.

Von einer Instrumentierung dreier spanischer Tänze aus einer Klaviersuite von Albeniz durch Rafael Frühbeck spricht man danach etwas geniert. Soviel harmlose Folklore, liebenswürdig aufgeputzt und dargeboten, paßt partout nicht in einen Abend, bei dem Grauen und Verzweiflung die Dominante waren.

Alfons Neukirchen

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