Zum Liederabend am 29. Oktober 1969 in Nürnberg


Nürnberger Zeitung, 31. Oktober 1969

Wunder einer edlen Stimme

Dietrich Fischer-Dieskau begeisterte in der Meistersingerhalle mit Goetheliedern vieler Komponisten – Flügel: Günther Weißenborn

Das Sonderkonzert in der Meistersingerhalle, bei dem Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von dem feinfühligen, exzellenten "Flügelmann" Günther Weißenborn, Goethe-Lieder sang, war ausverkauft. Wir haben ihn in Nürnberg schon öfter als Liedersänger gehört; vor vielen Jahren im Lessingtheater, dann im Opernhaus und auch in der Meistersingerhalle. Dazwischen konnte man ihn als großen Gestalter bei den Festspielen in Bayreuth und Salzburg oder an großen Opernbühnen sehen und hören.

Wenn man weiß, daß große Stimmen eine nicht sehr lange Blütezeit haben, sieht man einer Wiederbegegnung im Konzertsaal mit dem leisen Bangen entgegen, daß die großen Erwartungen enttäuscht werden könnten. Um so mehr durfte man sich bei diesem Konzert freuen: es wurde wieder zu einem ungewöhnlich schönen und großen Erlebnis. Wir erlebten wieder einmal das Wunder der Stimme Fischer-Dieskaus und die Tiefe seiner Gestaltung. Dieses Erlebnis war so stark und verinnerlicht, daß man am liebsten ohne lauten Applaus nach Hause gegangen wäre, um die Bereicherung, die man von dem Sänger empfangen hatte, weiter wirken zu lassen. Aber das ist eine Temperamentsfrage. Bei vielen Hörern will sich die Begeisterung Luft schaffen und auch für einen so großen, man darf wohl sagen einmaligen Künstler, wie es Fischer-Dieskau ist, gilt das Wort, daß der Beifall des Sängers süßestes Brot ist. Er muß sich ja auch bestätigt sehen – und das konnte er aus der Begeisterung, die ihm am Schluß entgegenbrandete, entnehmen.

Die Stimme Fischer-Dieskaus ist in allen Registern makellos und ausgeglichen, sie hat in der Höhe lyrischen Schmelz und in der Tiefe einen wohligen, sonoren Baritonklang. Das Wunder liegt nicht einmal so sehr in dieser Naturgabe und in der erworbenen Gesangskultur, sondern darin, daß der Sänger den Gehalt der Kompositionen im Geistigen und Seelischen bis in die Tiefe auslotet. Das gedichtete Wort kommt klar und deutlich über seine Lippen und mit ihm alle Empfindungsgehalte, aus denen heraus ein so großer Dichter wie es Goethe war, gestaltet hat.

Die Zusammenstellung der Komponisten, die Goethe-Verse vertont haben, ist in manchem überraschend: den Reigen eröffnet die Herzogin Anna Amalia, die anmutig Goethe-Verse aus dem Singspiel "Erwin und Elmire" vertonte; es folgen Reichardt, Zelter (er war der Duzfreund Goethes und in der Vertonung von Gedichten für Goethe ein Vorbild; Goethe wollte das Volksliedhafte Zelters und lehnte darum Schuberts "Erlkönig" ab); weitere Kompositionen hörte man von Beethoven, Schumann, Brahms,. Strauss, O. Schoeck, Reger, Busoni und von Hugo Wolf.

Höhepunkte waren dabei die Interpretation von Beethovens "Neue Liebe, neues Leben", Schuberts "Meeresstille", von Hugo Wolf "Anakreons Grab". Etwas zu dramatisch forciert hörte man Reichardts Vertonung von "Feiger Gedanken...", imponierend waren natürlich Schuberts "Erlkönig" und Hugo Wolfs Vertonung des "Rattenfängers".

In diesen Rahmen gehörte auch die Zugabe, Beethovens kesser "Rattenfänger".

Maximilian Spaeth

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