Zum Konzert am 16. Januar 1970 in Köln


Kölner Rundschau, 18. Januar 1970

Mahlers Skepsis ging bis zur Resignation

Beeindruckendes Sinfoniekonzert

"Nur wenn ich erlebe, tondichte ich, nur wenn ich tondichte, erlebe ich." Dieses Bekenntnis schrieb Gustav Mahler lange vor der Komposition des "Liedes von der Erde" nieder. Wie wahr Mahler sich in diesem Satz selbst analysiert, dokumentiert sich in kaum einem seiner Werke deutlicher als in diesen sechs sinfonischen Vokalsätzen, die im letzten WDR-Sinfoniekonzert zu hören waren. Mahler braucht nach eigenem Zeugnis das Wort als Träger musikalischer Ideen. Im "Lied von der Erde" sind die Texte keineswegs Selbstzweck, sondern interpretieren gleichsam kommentierend des Komponisten Ausdruckswillen. Die sinfonische Konzeption dominiert. Bei einer Aufführung gilt es, diese Dominanz zu verdeutlichen, ohne die Vokalpartien zu erdrosseln, aber auch ohne ihnen eine zu große Eigengewichtigkeit einzuräumen.

Diese Aufgabe obliegt zunächst dem Orchester. Leopold Ludwig, der Dirigent des Abends, verstellte sich nicht durch Überbetonung der Details die Möglichkeiten, den großen Aufriß des Zyklus nachzuzeichnen. Das Orchester fächerte sich in das dem Werk angemessene Spektrum expressionistischer Couleurs auf, die den Zyklus von leicht hingeworfenen Orientalismen des dritten Satzes bis zum unheimlichen, tiefdunklen Klang der Kombination von Kontrafagott und Gong im Schlußsatz durchziehen. Die Akzente der Interpretation lagen, ganz die glühende Phantastik der Partitur auskostend, auf den emotionalen Entladungen, die die extremen Bereiche eines erdenfernen Weltschmerzes im "Abschied" ebenso streifen wie die bizarr groteske Euphorie des "Trunkenen im Frühling".

Die tiefe Skepsis, die Mahler bereits in seiner zweiten Sinfonie umschrieben hat, wird hier noch intensiver bis zur endlichen Resignation durchlebt. Die Solisten, Waldemar Kmentt, Tenor, und Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, betrachteten das Werk von verschiedenen Positionen aus. Kmentt setzte seinen strahlenden, dem Orchester sich anpassenden Tenor mit einer fast heldischen Verhemenz im "Trinklied vom Jammer der Erde" und beim "Trunkenen im Frühling" ein und traf mit seiner verhaltenen Melancholie und fast heiterem Übermut genau das Ausdrucksniveau des Liedes "Von der Jugend". Kmentt geht mit dem Orchester und hält sich an die vom Dirigenten vorgegebene musikalische Route. Fischer-Dieskau hingegen, in der vom Alt transponierten Baritonlage in einem akustischen Vorteil, schien sich von der sinfonischen Grundtendenz bewußt abzusetzen, indem er jeder Phase des Textes mit Nachdruck und mitunter auch mit einer gewissen Überpointierung des Details nachspürte. Seine Fähigkeiten als Liedsänger, sich bis in die letzten Verästelungen des Ausdrucks zu versenken, machen gerade die Faszination aus, die seine Darstellung ausstrahlt, Die beinahe unwirkliche, unirdische Ruhe, die sich im "Abschied" fast bis zur zeitlosen Stagnation steigerte, war einer der ganz hervorragenden Augenblicke des Abends.

Die Suggestion des Sängers ist so stark, daß sie sogar in der Lage ist, dem Orchester durch das Medium des Dirigenten jedes kleine Rubato und jede kleine dynamische Schwankung zu übermitteln. Nach diesem Erlebnis erinnert man sich nicht mehr gerne der einleitenden Haydn-Sinfonie D-Dur Nr. 86, der eine etwas liebevollere Behandlung vielleicht auch in den Proben gewiß nur genützt hätte.

Hans-Elmar Bach

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