Zum Liederabend am 6. Februar 1970 in Hannover


Hannoversche Allgemeine, 9. Februar 1970

Die Geister entbinden

Fischer-Dieskau mit Goetheliedern im Kuppelsaal

"Mit Vorliebe und Bedacht nannte Goethe seine Gedichte: Lieder", so schreibt Dietrich Fischer-Dieskau, und weiter, daß von Schöpfungen des Dichters "musizierbare Lyrik" ausgehe. Er ruft in Erinnerung den aufschlußreichen Vorgang: Goethe diktiert die Prosafassung seiner "Iphigenie", er läßt sich dabei Musik vorspielen, um die "Geister zu entbinden". Dies eine kleine Auslese aus Fischer-Dieskaus Einleitungsworten zu seinem Goetheliederabend. Man erkannte erneut, welche Weite dem großen Sänger nicht nur der Schrift, sondern mehr noch des Aufspürens geistiger Gedankenketten eigen ist.

Der Kuppelsaal war, wie nicht anders zu erwarten, voll besetzt. Über die Kunst des ersten Liedinterpreten unserer Zeit ist kaum etwas Neues zu sagen. Nur vielleicht dies, daß sein Vortrag, seine Gestik wesentlich mehr in Bewegung sind als an der gleichen Stelle vor drei Jahren. Der Hörer war gefragt, ob etwa die ruckartigen Drehbewegungen im Nachspiel zu "Amboß und Hammer" im Cophtischen Lied von Schumann publikumsaffektiv waren oder ursprünglich im Sinn der "Entbindung der Geister". An Wirkung fehlte es gewiß nicht, auch nicht an Zügelung und Disziplin.

Die "Begnadung" der Stimme entfaltete sich stufenweise. Fischer-Dieskau verfügt über drei Stimmen des männlichen Organs. Nicht ganz profund zunächst der Baß in Beethovens Mailied, wuchs er doch in Schuberts Mondlied zu runder Größe, die Bariton-Mittellage schwingt jederzeit mühelos hinauf zu luftig-leichten Tenorklängen. Die Akkuratesse des Zierwerks, die Farbdifferenzierung der Vokale sind ein-, ja erstmalige Merkmale dieser unübertroffenen Kunst. Wer etwa könnte es so oder wird es je so können, das Wort "Neid" als ein giftiges "Na-id" zu präsentieren, ohne auch nur eine Spur vom Rhythmus zu verlieren? Hier wird der Künstler zugleich zum psychologischen Lehrmeister.

Die bunte Wanderung durch die Stile – Fischer-Dieskau schreibt von der Qual der Wahl – reichte von Goethes Weimarer Freunden Reichardt und Zelter über Beethoven und – versteht sich – Schubert, Schumann, Wolf bis zu Reger, Schoeck und Busoni.

Fischer-Dieskau reist auf einer Tournee, die ihn von Berlin über Hannover nach London führt, mit seinem Begleiter Karl Engel. Sicher weiß er, was er diesem soliden Pianisten an technischer Fertigkeit und Anpassungsfähigkeit zutrauen kann, der im großen Klavierkonzert und im Solo freier wirkt als in der Liedbegleitung.

Ein Wort nur an das Publikum: man sollte in fast halbstündiger Verlängerung einen Künstler nicht zu sieben Zugaben nötigen und nicht vergessen, daß so der impressive Tiefgang eines großartig geschlossenen Programms auch nicht um Zollbreite erhöht werden kann.

Gerhard Spaleck

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