Zum Konzert am 19. März 1970 in München
Süddeutsche Zeitung, 21. März 1970
Ein gelungener Tod
9. Abonnement-Konzert der Münchner Philharmoniker
Daß gute Orchester nicht vom Himmel fallen, ist eine Binsenweisheit. Sie sind das Ergebnis der aufmerksamen Arbeit ihrer Leiter. Das Pariser Conservatoire-Orchester beispielsweise blieb stets, gemessen an den Londonern oder am Cleveland Symphony, ein mittelmäßiger Klangkörper. Mit de Gaulles selbstbewußtem Regierungsstil sollte es den Glanz des "Vive la France!" teilen; man holte Karajan, den Klangzauberer, den Perfektionisten, und inzwischen soll das Orchester, so hört man, um vieles besser geworden sein.
Den Münchner Philharmonikern scheint es ähnlich zu ergehen. Sie vollbrachten kürzlich, zwischen allabendlicher Routinearbeit, unter Istvan Kertesz’ Leitung, eine bemerkenswerte Aufführung von Bartoks "Blaubart". Unter Rudolf Kempe gelang ihnen nun eine gute Wiedergabe von Mahlers "Kindertotenliedern". Ein Zweites, über die normensetzende Leistung des Dirigenten hinaus, schien bestätigt: Wenn dieses Orchester seine Routinearbeit mit den ach so beliebten Konzertstücken verrichtet, hört man allzu häufig die Plage professionellen Musizierens. Bei selten gespielten Stücken wie dem "Blaubart" oder jenen "Kindertotenliedern", bei interessanten Texten also, vollbringen sie gelegentlich exzellente Leistungen. Für Mahlers Musik, jene wunderbare Mischung aus Moderne und volksliedhaften Atavismen, war mit Dietrich Fischer-Dieskau überdies ein idealer Interpret gefunden. Kempe und Fischer-Dieskau nuancierten jede Passage dieses trotz aller Durchsichtigkeit komplexen Stenogramms, ohne in Manierismen und falsche Theatralik zu verfallen. (Verschwiegen sei nicht, daß Fischer-Dieskau im dritten Lied sich im Text verhedderte.) Der makabre und in seiner Verzweiflung verständlich doppelbödige Selbstbetrug des vierten Liedes, der plötzlich dialektisch umschlägt in metaphysische Deutung ("Sie machen nur den Gang zu jenen Höh’n"), war glänzend herausgearbeitet. Oder die im Grunde schon nicht mehr überzeugende Geborgenheit am Schluß des fünften Liedes - sie mag von Rückert noch als echt empfunden worden sein -, da musikalische Eindeutigkeit diese Geborgenheit nur zögernd einzulösen versucht, kam mit angemessener Zurückhaltung, als wüßten Kempe und Fischer-Dieskau, daß der Glaube an Dreiklänge keine Berge versetzt, sondern sie allenfalls nicht sieht.
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......... war es ein gutes Konzert vor einem etwas herzlosen Publikum, das nach dem Tod zweier Kinder wie Ästheten in Jubel ausbrach, weil es ein gelungener Tod war.
Baldur Bockhoff
Münchner Merkur, 20. März 1970
Tränen bei Fischer-Dieskau
Der Sänger gastiert im neunten philharmonischen Konzert
Rudolf Kempe schickte (im neunten Abonnementskonzert der Philharmoniker im Herkulessaal) die berühmte Träne auf Reisen: Schumanns Manfred-Ouvertüre, Mahlers Kindertotenlieder und die Pathétique von Tschaikowski - verstohlen wurden Handtäschchen auf- und zugeklappt, ein Programm für Taschentücher.
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Fischer-Dieskaus Künstlerschaft stand bei den Kindertotenliedern nie in Frage. Er präsentierte sich stimmlich in Hochform, das Publikum schmolz dahin, was nach dem herrlich gesungenen Schluß, den Mahler "wie ein Wiegenlied" vorgetragen haben wollte, zu verstehen war. Wer kann ihm das schon nachsingen?
Die bekannten Einwände gegen Dieskaus Manierismen zu wiederholen, würde zu nichts führen. Manches klang befremdend, etwa sein herrisch auftrumpfendes Crescendo "Die Sonne, sie scheinet allgemein" im zweiten Lied, wo er schei-einet singt, das -einet unwirsch und lauter, als sei’s ein eigenes Wort. Mahlers hemmungslos "gefühlige" Musik, die hier so ungeniert den "Tristan" zitiert, verliert - so scheint mir -, wenn man sie nicht volksliedhaft schlicht bringt, wie es Kathleen Ferrier so unvergleichlich tat, sondern jedes Lied zu einer kleinen Oper macht. Die feuchten Augen im Publikum gaben indes Dieskau recht.
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Volker Boser
Abendzeitung, München, 20. März 1970
Mehr wert mit Kempe
9. Abonnementkonzert der Münchner Philharmoniker im Herkulessaal: Rudolf Kempe dirigierte Werke von Schumann, Mahler (Solist: Dietrich Fischer-Dieskau) und Tschaikowsky.
Ohne Rudolf Kempe sind die Philharmoniker nur die Hälfte wert, zusammen mit ihrem Chefdirigenten sorgen sie allerdings für absolute Höhepunkte im Münchner Konzertleben. [...]
Mahlers "Kindertotenlieder" brachte Fischer-Dieskau als stille Klage. Auch hier unterblieb der Sentimentdrücker, der angestrebte Wirkungen so leicht ins Gegenteil umschlagen läßt. Eine mustergültige, weil schlichte Interpretation.
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Helmut Lesch
tz, München, 20. März 1970
9. Abonnement-Konzert der Münchner Philharmoniker im Herkulessaal der Residenz. Leitung: Rudolf Kempe.
Beziehungsreich (Passionszeit!) stellte Kempe die "Kindertotenlieder" Gustav Mahlers zwischen Schumanns Ouvertüre zu Byrons Trauerspiel "Manfred" und Tschaikowskis "Pathétique". [...]
Für die "Kindertotenlieder" konnte Dietrich Fischer-Dieskau gewonnen werden - und damit erübrigt sich jede Kritik.
Mahler hatte sich in die Dichtung Friedrich Rückerts mit einer an Hypochondrie grenzenden Sensibilität vertieft und Fischer-Dieskau lotet diese Tiefen der Trauer restlos aus.
Ein ganz besonderes Lob dem Hornsolo nach der Stelle "... sie ruh’n wie in ihrer Mutter Haus".
Karl- Robert Danler