Zum Liederabend am 30. Juli 1970 in Salzburg
Süddeutsche Zeitung, 1. August 1970
Salzburger Festspiele
Eins und doppelt
Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter mit der "Schönen Magelone" im Mozarteum
Vier Minuten hatte und brauchte Dietrich Fischer-Dieskau zuletzt in München - als "Sprecher" der "Zauberflöte" -, um dem Publikum eines trübseligen Opernabends mit seiner unbeirrbaren Interpretationskunst, mit der schieren Größe seines Musikgefühls den Weg zu Mozart zu öffnen. Nun bewies er in Salzburg (und tags darauf sicherlich auch in München), daß ein ganzer Abend kaum genügt, sich an der vollen Entfaltung dieser Gaben sattzuhören. Brahms’ Zyklus "Die schöne Magelone", 1861-69 entstanden, enthält wohl nicht die schönsten und größten Lieder des Komponisten; in Salzburg konnte davon das als Draufgabe betörend herrlich gesungene "Wie bist du, meine Königin", in derselben Zeit entstanden, als Vergleich überzeugen. Aber die Romanzen-Reihe aus fünf Abschnitten nach Texten Tiecks bietet einem Sänger vom Format Fischer-Dieskaus eine rare Gelegenheit, alle Schattierungen des Tons und der Färbung einzusetzen, fast alle Stimmungen romantischen Ausdrucks nacheinander aufzusuchen.
Diese Vielfalt ist schon in der Form der Romanze angelegt, die auf einer seltsamen, ungebundenen Verschmelzung der Gattungen beruht: Lyrische Episoden werden in dramatische Gegensätze zueinander gebracht, ihre Abfolge aber ergibt einen chiffrierten epischen Sinn. So steht schon der erste, lange Gesang "Keinen hat es noch gereut" mit seiner Abwechslung von dynamisch vorwärtsdrängenden Rittfiguren, schwärmerisch verweilenden Naturbildern und versonnen zurückblickender Innerlichkeit für die erzählende Chiffre: Aufbruch. Fischer-Dieskau hat die Kraft und Ruhe, sich auf alle Stimmungen ganz einzulassen, ihre Kontraste auszumalen und auszusingen - und dennoch den epischen Hinter- und Gesamtsinn mit entschlossenem Formbewußtsein festzuhalten. So nimmt dieses weitgespannte Lied den Charakter eines Monologs an - und reißt Möglichkeiten des musikdramatischen Erzählens auf, die Brahms dann allerdings kaum gebrauchen mochte.
Schon von diesem ersten Lied und seiner kongenialen Wiedergabe kann nicht berichtet werden, ohne Svjatoslav Richter zu nennen. Er ließ sich nicht bewegen, auch das Münchner Konzert mitzuspielen; in Salzburg stand sein Anteil gleichrangig neben dem Fischer-Dieskaus. Die eröffnenden Baßfiguren des Reitens hatten bereits (auf dem Bösendorfer-Flügel, der geschlossen zwar etwas hallreich, dafür aber nie - wie mancher Steinway - gedämpft, gedrosselt klingt) eine unerklärlich spannungsreiche Prägnanz. Zwischen Fischer-Dieskau und Richter braucht für keinen Augenblick der Zwang eines Sich-Fügens aufzukommen. Es entsteht (für den, der es nicht gehört hat, schwer vorstellbar) Miteinander als zweifache Entfaltung reichster, lückenloser Selbständigkeit. Wohl kein anderer als Fischer-Dieskau kann sich heute leisten, Richter neben sich so differenziert und frei spielen zu lassen, als spiele er ein Brahms-Intermezzo in einem Solo-Programm. Welchen Gewinn das für die eindringliche Belebung eines Liedes erbringen kann, erwies sich noch vor Schluß des ersten Gesangs.
Mit unangestrengter, undemonstrativer Natürlichkeit ließ Richter vor den Worten "So bleibt das Alter selber jung" sein Instrument das Motiv singen, das Fischer-Dieskau dann nachzusingen hatte. Dieses Einleiten der selig sinnenden Imitationskette, die dann etwa die letzten fünfzig Takte erfüllt, brauchte nicht mit Nachdruck auf die Replik des Sängers vorauszudeuten. Er setzte dann ein mit der einfachsten, schwebendsten Leichtigkeit (gleichsam aus eigener Laune, nicht wie vom Vorbild des Flügels gezwungen) und gab dadurch dem Zuhörer die Überraschung des Notwendigen: Das gesungene Wort der Bariton-Stimme folgte der gesungenen Wortlosigkeit des Flügels mit jener einleuchtend schönen Selbstverständlichkeit, mit welcher dem inneren Gedanken der beredte Ausdruck, der Idee die Verwirklichung folgt. - Eine solche Stelle genügt, nicht nur den Sinn eines einzigen Liedes in diesem Zyklus zu klären, sondern auch anzudeuten, wo Brahmssche Konstruktion die fast noch Schumannsche Poesie der lyrischeren Passagen zu durchdringen beginnt.
Fischer-Dieskau gönnte sich Schumannsche Innigkeit in der Tongebung, Richter deutete ebenso die Schumannsche Süße und Leidenschaft des oft noch sehr schlanken Klaviersatzes an. Sie ließen sich nicht sozusagen durch den gedruckten Namen des Komponisten dazu verleiten, dessen beseelter Erfindung von außen schwermütige Starre anzutun. Im heimlichen Kern Brahmsscher Beseelung spürten sie aber jenes eigenartig Objektive, aus dem Strom der Innerlichkeit Herausgehobene auf, das diese Musik von allem unterscheidet, was Schumann schrieb. So wurde in der einzigartig inspirierten ersten Strophe des Schlaflieds (Nr. IX) deutlich: Brahms vertont im gleichmäßig pochenden Takt nicht die allmähliche Beruhigung der Seele - sondern gleichsam die eigene, wesensmäßige Zeitlichkeit der Ruhe selbst. Ähnlich gewannen die beiden Klagelieder des Unglücks "Wie schnell verschwindet" und "Muß es eine Trennung geben" durch eine behutsame Einfachheit (durch Anspielung, wenn man will, auf etwas Vollsliedhaftes) das figurartig Geschlossene ihrer Eigenart: jenes Indirekte, in dem sich die Zartheit von Brahms zugleich verhüllt und verwirklicht.
Ivan Nagel
Münchner Merkur, 1. August 1970
Salzburger Festspiele: Lieder von Brahms
Fischer-Dieskau, Richter und die "Schöne Magelone"
Die blendendste Attraktion unter den Salzburger Solistenkonzerten ist in diesem Jahr das Gespann Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter. Dabei wurde ihr Brahms-Abend im Mozarteum, auf den sich ein festliches Publikum erwartungsvoll freute, alles andere als ein auftrumpfendes Starkonzert. Ein Pianist und ein Sänger, beide von äußerstem Rang, taten sich - und in Salzburg nicht zum erstenmal - zum Musizieren zusammen. Es wirkte wie die selbstverständlichste Sache der Welt und war doch das Außerordentliche.
Unsinnig, hier von der etwa notwendigen Unterordnung des Begleiters unter den Sänger zu sprechen. Nicht um die Rangfolge der beiden geht es, sondern um die Harmonie: zwei in ihrem Fach so geprägte, eigenständige Künstler machen sich die Mühe miteinander, dasselbe zu wollen.
Sehr einleuchtend, daß sie Brahms musizieren. Sein reichgetönter Klaviersatz muß Richter reizen, wie es Fischer-Dieskau reizen muß, den Grund der Lieder von einem Pianisten legen zu lassen, der wie ein Seismograph auf jede Schattierung, jede Trübung in der Stimmung, jeden zarten Farbenwechsel reagiert.
In seinem Essay über das Klavierlied spricht Fischer-Dieskau einmal von den Brahms’schen Klavierbegleitungen, die den Sänger zu eher instrumentaler Tongebung nötigen. Entsprechend stärker fällt dann dem Pianisten die Aufgabe des Deklamatorischen zu.
In der "Schönen Magelone", von Brahms auf 15 Tieck’sche Romanzen komponiert, die ihrerseits auf einen französischen Ritterroman zurückgehen, wird einer zarten Liebe nachgespürt. Was den Romantikern gewiß war, die enge Verwandtschaft von Liebe und Tod ("Lust ist nur tieferer Schmerz"), ist es auch für Brahms. Daher sind die plötzlichen Stimmungsumschwünge, die durchgehaltene geheime Melancholie, selbst wenn sie von ritterlich-männlichen Aufschwüngen verdeckt werden, Grundton und Reiz dieser Lieder.
Richter, der hochschwierige, dämonische Pianist, deckt Brahms’ bohrende Traurigkeit, die Schatten, die Zweifel mutig auf, glättet nichts, und Fischer-Dieskau scheint mit ihm zusammen den Text großflächiger zu gliedern, dramatischer und mit mehr Ton zu singen. Um so überwältigender die Ruhepunkte, das edelphrasierte Schlaflied oder die Schlußromanze. Hier fiel Brahms über einer wie Quader hingesetzten Kadenz - Beständigkeit scheint nun doch möglich - eine volksliedhaft schlichte Melodie ein "Treue Liebe dauert lange" - Fischer-Dieskau und Richter vermochten das so rein und innig zu deklamieren, wie es nur dem äußersten Kunstverstand möglich ist.
Das Publikum hörte beglückt zu. Sehnsucht, Zweifel, Traurigkeit, Zwischentöne, die im Tag lediglich zum störenden Nebengeräusch geworden sind - in solchen Liederabenden dürfen sie plötzlich wieder da sein, sind wichtig, sind das wichtigste überhaupt. Dankbarkeit, Jubel, Blumen und drei Zugaben, zum Schluß das herrliche "Wie bist du meine Königin".
Beate Kayser
Salzburger Nachrichten, 1. August 1970
Wie Lautenton vorüberhallt
Brahms’ "Magelone"-Romanzen - Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter im Mozarteum
[...]
Dietrich Fischer-Dieskau, der Sänger, und Svjatoslav Richter, selber ein Kitharode des Klaviertons, haben am Donnerstag im Ersten Liederabend der Festspiele "Die schöne Magelone" von Johannes Brahms einem großen internationalen Publikum gegenwärtig gemacht. Das ist die Tatsache. Die Konzentration im Saal war ungewöhnlich, auch für die Grade, die sonst bei Fischer-Dieskau beobachtet werden. Das Werk war vom ersten Takt an präsent.
[...]
Die erneute Begegnung mit Fischer-Dieskau in dem festlichen Salzburger Liederabend ließ den nun Fünfundvierzigjährigen als einen erkennen, der sich in allem Wesentlichen, was den Zugang gerade zu diesem ausgeprägt romantischen jungen Brahms eröffnet, fast bis in jede deklamatorische Nuance treu geblieben ist. Das verwundert nicht, weil die intellektuelle Auffassung bei dem Sänger auch vor zehn und fünfzehn Jahren schon vollkommen geklärt dastand. In der Gesamtanlage des Zyklus tritt nur das Lied der Sulima mit einer ins Rezitativische zurückgewandten Vortragsweise aus der früheren Gangart heraus; dies mag durch die prädominante Rhythmik der Klavierstimme neu bedingt sein, welche Svjatoslav Richter ganz wörtlich nach der Bewegtheit der Meereswellen ("sie hüpfen und springen") von Anfang bis Ende in schnellem Tempo durchakzentuiert. Wenn irgendwo ein Einwand aufkommen könnte, so in diesem Stück, das dadurch dem Gesang ein wenig von der Manier einer Klavierszene aufzwingt. Die Brahmssche Absicht scheint mir hingegen genau in der Mitte zu liegen, der Komponist hätte sonst vielleicht doch auch in dem Magelonen zugedachten, von ihr quasi rezitierten Lied ihres Ritters, "So willst du des Armen.,..", den männlich-pathetischen Ausdruck ins Imitatorische verlegt.
Fischer-Dieskaus Interpretation hat im übrigen der farblichen Dichte, und da besonders im heldischen Valeur, für die Bildkraft der Szenen prächtige Steigerungen hinzugewonnen. Die baritonale Skala erscheint durch ein satt glänzendes, machtvolles Baßregister noch einmal über ihre Größe hinausgewachsen. An der Idealität des Ausgleichs hat sich nichts geändert, vielmehr werden alle Regionen mit reichem Wohlklang sicher, ja immer noch bei rundem Rückhalt an Resonanz und Atem souverän durchschritten.
Die Dualität im künstlerischen Zusammenwirken mit Svjatoslav Richter erweist sich am Beispiel dieses Werkes - und den Zugaben, die der Jubel erheischte -, zumindest im Falle Brahms, als höchst ergiebig für beide Teile. Richters Klavierspiel mit seinen nahezu unwiederholbar erscheinenden Klangwundern im Anschlag, zumal der Linken, die hier für Figuration und Kontrapunktik der Bässe so bedeutsam ist, gibt eine gleichermaßen malerische wie artikulierte Anschauung von Brahmsischem Stil. Dabei wird das Zusammenspiel mit dem Sänger ohne jede konzertierende eigene Geste zu einer bis ins kleinste geordneten Ausdrucksstudie verschmolzen. So bleibt dem Zuhörer in jedem Moment der Begriff gleicher Ränge von Auffassung und Vortragskunst bewußt. Die Komposition selbst räumt dem Klavierpart in den zahlreichen Vor- und Nachspielen, in Überleitungen und illustrierenden Phrasen Aufgaben ein, die der Sprachkraft eines Instrumentalisten wie Richter förmlich das Wort geben. Man hörte es, wie von zwei großen Troubadouren im Wechselspiel, ein um das andere Mal: "Wie soll ich die Freude, die Wonne denn tragen...", und es erfüllte sich als ferne Vergangenheit wieder in dem phantastischen Klangbild "Wie Lautenton vorüberhallt...".
Max Kaindl-Hönig
Kronen-Zeitung, Wien, Datum unbekannt
Gewaltverzicht im Mozarteum
Zum ersten Liederabend der Salzburger Festspiele
Selbst der Zeitpunkt stimmte exakt. Fast hätte man ja am Donnerstagabend auf dem "neutralen" Boden des Salzburger Mozarteums glauben können, Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter ginge es darum, sich vor aller Welt zu den deutsch-sowjetischen Annäherungsversuchen zu bekennen. Wobei es allen Zuhörern sehr bald offenbar geworden sein muß, daß man bei dieser Konfrontation großer Musiker längst nicht mehr um die Formeln für einen Gewaltverzichtspakt feilschte, sondern bereits mitten in der Durchführung eines Beistands- und Freundschaftsvertrages war.
Es war ein merkwürdiger, zwiespältiger Abend, der in seinem Ablauf keineswegs hielt, was die glanzvolle Papierform versprochen hatte. Das gilt, um jedem Mißvertändnis vorzubeugen, keinesfalls für Svjatoslav Richter, der seine selbstgewählte Aufgabe mit einer Diskretion und Feinfühligkeit löste, die uneingeschränkte Bewunderung verdient.
Liederabende werden nun aber einmal nicht von den Begleitern, sondern von den Sängern entschieden. Und am Beispiel der fünfzehn Romanzen "Die schöne Magelone", Opus Nr. 33, erhärtete sich mancher Verdacht, daß Dietrich Fischer-Dieskau seine Krise noch keineswegs überwunden hat. Verloren scheint fürs erste die frühere Sonorität seines Baritons, der nun in der Höhe und Tiefe gleichermaßen überfordert klingt. Immer häufiger flüchtet Fischer-Dieskau, einst ein Großmeister der feinsten Nuancierung, in ein so grobschlächtiges, polterndes Forte, daß auch die Intonationsreinheit und die Textdeutlichkeit zuweilen arg in Mitleidenschaft gezogen werden.
Wo immer es lyrische Ruhepunkte gab, war Fischer-Dieskau fast der alte. Hier spielte er seine Überlegenheit der Pointierung, seine mustergültige Artikulation und seine gestalterische Ökonomie so kunstvoll aus, daß man einfach hin- und hergerissen war zwischen guten und schlechten Eindrücken.
Den absoluten Höhepunkt des Abends setzte er knapp vor der Pause. Schon beim Pianissimo-Beginn des Liedes "Ruhe, Süßliebchen" (Nr. 9) bestimmte Svjatoslav Richter einen Ton von schlichter und bewegender Verhaltenheit, den Fischer-Dieskau sorgsam bewahrte. Hier erfüllte sich für die Dauer eines Liedes eine wahrhaft kongeniale Partnerschaft.
Gerhard Brunner
Darmstädter Echo, 11. August 1970
Hamlet als Werners Privatsache
Salzburgs Pech: das Schauspiel - Ein Glücksfall: Fischer-Dieskau und Richter
[...]
Sie lieben Brahms
Unter Salzburgs rund fünfzig Festspielkonzerten war in diesem Jahr die blendendste Attraktion das Gespann Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter. Rußlands berühmtester Pianist und Deutschlands exzeptionellster Sänger taten sich - in Salzburg nicht zum erstenmal - zum Musizieren zusammen. Es wirkte wie die selbstverständlichste Sache der Welt und war doch das Außerordentliche, dabei alles andere eher als ein auftrumpfendes Starkonzert. Unsinnig, hier von der notwendigen Unterordnung des Begleiters unter den Sänger zu sprechen. Nicht um die Rangfolge der beiden geht es, sondern um die Harmonie: zwei in ihrem Fach so geprägte, eigenständige Künstler machen sich die Mühe miteinander, dasselbe zu wollen.
Sehr einleuchtend, daß sie Brahms musizieren. Sein reichgetönter Klaviersatz muß Richter reizen, wie es Fischer-Dieskau reizen muß, den Grund der Lieder von einem Pianisten legen zu lassen, der wie ein Seismograph auf jede Schattierung, jede Trübung in der Stimmung, jeden zarten Farbwechsel reagiert. In seinem Essay über das Klavierlied spricht Fischer-Dieskau einmal von den Brahmsschen Klavierbegleitungen, die den Sänger eher zu instrumentaler Tongebung nötigen. Entsprechend stärker fällt dann dem Pianisten die Aufgabe des Deklamatorischen zu. In der "Schönen Magelone", von Brahms auf fünfzehn Tiecksche Romanzen komponiert, wird einer zarten Liebe nachgespürt. Was den Romantikern gewiß war, die enge Verwandtschaft von Liebe und Tod ("Lust ist nur tieferer Schmerz"), ist es auch für Brahms. Daher sind die plötzlichen Stimmungsumschwünge, die durchgehaltene geheime Melancholie, selbst wenn sie von ritterlich-männlichen Aufschwüngen verdeckt werden, Grundton und Reiz dieser Lieder.
Svjatoslav Richter, der hochschwierige, dämonische Pianist, deckt Brahms’ bohrende Traurigkeit, die Schatten, die Zweifel mutig auf, glättet nichts, und Fischer-Dieskau scheint mit ihm zusammen den Text großflächiger zu gliedern, dramatischer und mit mehr Ton zu singen. Um so überwältigender die Ruhepunkte, das edel phrasierte Schlaflied oder die Schlußromanze. "Treue Liebe dauert lange" - Fischer-Dieskau und Richter vermögen das so rein und innig zu deklamieren, wie es nur dem äußersten Kunstverstand möglich ist. Das Publikum hörte beglückt zu. Sehnsucht, Traurigkeit, Zwischentöne, die im Tag lediglich zum störenden Nebengeräusch geworden sind - in solchen Liederabenden dürfen sie plötzlich wieder da sein. Dankbarkeit, Jubel, Blumen und drei Zugaben, zum Schluß das herrliche "Wie bist du meine Königin".
Helmut Schmidt-Garre
Neue Zeitschrift für Musik, 9/70
Salzburger Festspiele 1970
[...]
Die blendendste Attraktion unter den Salzburger Solisten-konzerten war in diesem Jahr das Gespann Dietrich Fischer-Dieskau und Sviatoslav Richter. Dabei wurde ihr Brahms-Abend im Mozarteum, auf den sich ein festliches Publikum erwartungsvoll freute, alles andere als ein auftrumpfendes Starkonzert. Ein Pianist und ein Sänger, beide von äußerstem Rang, taten sich - und in Salzburg nicht zum ersten Mal - zum Musizieren zusammen. Es wirkte wie die selbstverständlichste Sache der Welt und war doch das Außerordentliche. Unsinnig, hier von der etwa notwendigen Unterordnung des Begleiters unter den Sänger zu sprechen. Nicht um die Rangfolge der beiden geht es, sondern um die Harmonie: Zwei in ihrem Fach so geprägte, eigenständige Künstler machen sich die Mühe, miteinander dasselbe zu wollen.
Sehr einleuchtend, daß sie Brahms musizieren. Sein reichgetönter Klaviersatz muß Richter reizen, wie es Fischer-Dieskau reizen muß, den Grund der Lieder von einem Pianisten legen zu lassen, der wie ein Seismograph auf jede Schattierung, jede Trübung in der Stimmung, jeden zarten Farbenwechsel reagiert. In seinem Essay über das Klavierlied spricht Fischer-Dieskau einmal von den Brahms'schen Klavierbegleitungen, die den Sänger zu eher instrumentaler Tongebung nötigen. Entsprechend stärker fällt dann dem Pianisten die Aufgabe des Deklamatorischen zu.
In der "Schönen Magelone", von Brahms auf 15 Tieck'sche Romanzen komponiert, die ihrerseits auf einen französischen Ritterroman zurückgehen, wird einer zarten Liebe nachgespürt. Was den Romantikern gewiß war, die enge Verwandtschaft von Liebe und Tod ("Lust ist nur tieferer Schmerz"), ist es auch für Brahms. Daher sind die plötzlichen Stimmungsumschwünge, die durchgehaltene geheime Melancholie, selbst wenn sie von ritterlich-männlichen Überschwängen verdeckt werden, Grundton und Reiz dieser Lieder.
Sviatoslav Richter, der hochschwierige, dämonische Pianist, deckt Brahmst bohrende Traurigkeit, die Schatten, die Zweifel mutig auf, glättet nichts, und Fischer-Dieskau scheint mit ihm zusammen den Text großflächiger zu gliedern, dramatischer und mit mehr Ton zu singen. Um so überwältigender die Ruhepunkte, das edel phrasierte Schlaflied oder die Schlußromanze. Hier fiel Brahms über einer wie Quader hingesetzten Kadenz - Beständigkeit scheint nun doch möglich - eine volksliedhaft schlichte Melodie ein. "Treue Liebe dauert lange" - Fischer-Dieskau und Richter vermochten das so rein und innig zu deklamieren, wie es nur dem äußersten Kunstverstand möglich ist.
Das Publikum hörte beglückt zu. Sehnsucht, Traurigkeit, Zwischentöne, die im Tag lediglich zum störenden Nebengeräusch geworden sind - in solchen Liederabenden dürfen sie plötzlich wieder da sein, sind wichtig, sind das wichtigste überhaupt. Dankbarkeit, Jubel, Blumen und drei Zugaben, zum Schluß das herrliche "Wie bist du meine Königin".
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