Zum Liederabend am 5. Oktober 1970 in Berlin
Süddeutsche Zeitung, 8. Oktober 1970
Fischer-Dieskau singt Fortner
Liederabend bei den Berliner Festwochen
Auf dem Programmzettel des Liederabends, den Dietrich Fischer-Dieskau und der Pianist Aribert Reimann während der Berliner Festwochen im Sender Freies Berlin gaben, ist von "neuen Liedern" die Rede. Und obwohl die Werke, die gesungen wurden, zu einem großen Teil aus der Zeit zwischen 1900 und 1910 stammen, ist die Ankündigung nicht bloß paradox. Denn einerseits wird die Musik von Schönberg, Webern und Berg immer noch als neu empfunden, obwohl sie es chronologisch längst nicht mehr ist; und andererseits bedeutet sie eine Novität im Repertoire Fischer-Dieskaus, der sich offenbar der Gefahr des Manierierten bewußt geworden ist, in die er geraten kann, wenn er stets im selben Umkreis klassisch-romantischer Lieder verharrt.
Fischer-Dieskau beschränkte sich allerdings, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf frühe Lieder der Schönberg-Schule, auf Werke also, die von der Tonalität mindestens Reste bewahren und deren Nähe zu Hugo Wolf und zur Liedertradition des 19. Jahrhunderts noch fühlbar ist. (Er bezog sogar ein Jugendwerk von Webern ein, das weniger ein Kunstwerk als ein Dokument über die konventionellen Anfänge eines musikalischen Revolutionärs ist.) Fischer-Dieskau braucht jedoch, wie sich an Schönbergs Opus 48, einem späten Werk, zeigte, atonale und zwölftönige Lieder nicht zu scheuen.
Seine Neigung zu expressiver Hervorhebung von Details war den Gedichten von Mombert, die Berg vertont hat, sowie den Dehmel-Texten Schönbergs und Weberns restlos angemessen. Dagegen wird der Tonfall von George-Gedichten, deren Pathos von Unnahbarkeit umgeben ist, durch nachdrücklichen Vortrag von Einzelheiten verfehlt. George-Lieder fordern vom Sänger keine interpretatorischen Zusätze, sondern eine Darstellung, die aus Selbstverleugnung erwächst.
Von den Liedern aus der Frühzeit der Neuen Musik hoben sich Wolfgang Fortners "Terzinen", die in Berlin uraufgeführt wurden, durch ihren spröderen, in sich verschlossenen Charakter ab. Der Abstand eines halben Jahrhunderts war fühlbar, obwohl Fortner mit der Schönberg-Schule einen Grundzug der Liedkomposition gemeinsam hat: die Vermittlung zwischen expressiver Deklamation und konstruktivem Kalkül, den Übergang von Ausdruck in Struktur und umgekehrt von Struktur in Ausdruck. Und daß Fortner, der zu strengen Formen neigt, gerade Hofmannsthalsche Terzinen als Text wählte, leuchtet ein, sobald man Expressivität als innere Voraussetzung zu konstruktiver Entfaltung erkennt. Andererseits dient die Musik der Dichtung. Hofmannsthals Gedichte, die heute - in einem Zeitalter des Argwohns gegen den Ausdruck von Gefühlen - kaum mehr sprechbar sind, erhalten durch die Musik, gleichsam in deren Schutz, die Möglichkeit zurück, vorgetragen zu werden. Und gerade Fortners distanzierter und dennoch lyrischer Ton wird Gedichten gerecht, in denen die Emphase zurückhaltend und die Zurückhaltung emphatisch ist. Allerdings bedürfen die Lieder, die Fischer-Dieskau und Reimann gewidmet sind, eines Sängers und eines Pianisten, die den weit gespannten Zyklus als niemals abreißenden Zusammenhang kenntlich machen.
Karl Dahlhaus
Der Tagesspiegel, Berlin, 7. Oktober 1970
Meisterliche Interpretation
Musik der Gegenwart
In der Reihe "Musik der Gegenwart", diesmal im Funkhaus an der Masurenallee gemeinsam veranstaltet von den Festwochen und dem Sender Freies Berlin, gab Dietrich Fischer-Dieskau mit Aribert Reimann am Klavier einen Liederabend. Schönberg, Webern, Berg kamen zu Wort und mit einer Uraufführung seiner sieben Jahre alten Vertonung der "Terzinen" Hofmannsthals auch Wolfgang Fortner.
Was vergilbten Albumblättern gleicht, Spätromantik aus dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, was in die Zukunft weist, die Auswahl bot es vermischt: Spätromantik von Schönberg mit zunehmend vollgriffig-grüblerischem Klavierpart, Stücke aus verschiedenen Liedgruppen bis Opus 14, dann zwei Jakob Haringer-Lieder von 1933, die am Text kranken (die Interpretation Fischer-Dieskaus deutete dies mit Vorsicht an). Webern hängt sich in frühen Liedern (1899 bis 1904, noch ohne Opuszahl) an Gedichte von Avenarius und Martin Greif (später hat er unter anderen Trakl vertont): dennoch gibt es schon hier, in geistiger Tristan-Nähe, die fragile Webernsche Miniatur. Aus den benachbarten Gruppen Opus 3 und Opus 4 von Webern hörte man George-Lieder: schlichter der Tonfall, syllabisch die Textkomposition, knappe, ausgesparte Begleitung. Vor den Mombert-Liedern von Alban Berg (Opus 2) - Beispielen schöner Übereinstimmung von frühexpressionistischer Literatur und Musik - stand die Fortner-Uraufführung:
"Noch spür’ ich ihren Atem auf den Wangen" und "Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen" - kann man so etwas in postseriellem Stadium mit spätexpressionistischem Habitus noch vertonen? Hofmannsthals vier Gedichte, nach der Überschrift des ersten gern "Terzinen über Vergänglichkeit" genannt, sind meditative, stille, verhaltene Texte - nachdenkliche Lyrik. Fortners musikalische Sprache neigt dazu, das Leise, das, was die Texte im Ungewissen lassen wollen, laut zu machen. Interludien, mit klirrendem Accelerando das letzte, verstärken diesen Effekt. Der Komponist mag die Diskrepanz geahnt haben. Im zweiten Stück geht er zu einer flächigeren Schreibweise über, und die Wortinterpretation insgesamt sucht der Gefahr der Sinnhuberei mit spürbarem Streben nach Understatement auszuweichen: eine noble, ehrliche, keine große Musik. Fortner konnte sich für herzlichen Beifall bedanken.
Daß die Konzentration des Sängers und seiner meisterlichen Interpretationen sich auf das Publikum übertrug, ein Tatbestand, den man sich in der Philharmonie oft vergebens wünschte, hat ihm vielleicht zu denken gegeben. Hier stimmte alles so gut zusammen: ein auch an unbekannterer Musik speziell interessiertes Auditorium, der Raum, die Interpretationen, an denen Aribert Reimann als besonders eingeweihter und technisch wundervoll sicherer Klavierpartner teilhatte. Viel Beifall.
Sybill Mahlke
Berliner Morgenpost, 8. Oktober 1970
Vertraute Stimme sang neue Lieder
Die hohe Schule kultivierter Liedgestaltung, der lebendige, expressive Vortrag - das sind die Merkmale, die Dietrich Fischer-Dieskau als Liedersänger seit langem auszeichnen. Jetzt stellte er sie in der 58. Veranstaltung der Reihe "Musik der Gegenwart" im Großen Sendesaal des SFB in den Dienst neueren Liedschaffens.
Von den drei Klassikern der "Wiener Schule" - Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern - sang Fischer-Dieskau eine Auswahl, die die Entwicklung dieser Komponisten im Liedschaffen spiegelte. Sicher ist ein solcher Überblick in der kleinen Form des lyrischen Ausdrucks nicht so verdeutlichend wie im Bereich der Instrumentalmusik; doch bot die Programmauswahl diesen Überblick so gut wie möglich.
[...]
Wolfgang Fortners "Terzinen" nach Hugo von Hofmannsthal, 1963 entstanden, wirkten in der Umgebung der "Wiener Giganten" zwar ausdrucksverwandt, aber doch etwas verschmockt.
Von dem großen Erfolg dieses Abends konnte der hervorragend mit dem Sänger zusammenwirkende Pianist Aribert Reimann einen beachtlichen Anteil für sich verbuchen.
-ser
Der Abend, Berlin-West, 6. Oktober 1970
Fischer-Dieskau im SFB-Sendesaal
Avantgarde gestern und heute
Musikalische Entdeckungsreise durch Orient und Okzident
Kein Sänger außer Dietrich Fischer-Dieskau könnte es sich leisten, ein Konzert ausschließlich mit Liedern von Schönberg, Webern, Berg und Fortner zu geben, ohne mit einem nur halb gefüllten Saal rechnen zu müssen. Kein Künstler empfindet auch so wie Fischer-Dieskau die Verpflichtung, sein Prestige für Musik der Gegenwart ins Feld zu führen; das finanzielle Risiko trugen in diesem Fall die Festwochenleitung und der Sender Freies Berlin.
Lieder wurden entdeckt: acht Lieder Arnold Schönbergs, größtenteils aus seiner Frühzeit (1899 bis 1908), neun Lieder Anton Weberns aus den gleichen Jahren des Aufbruchs und die vier Lieder des Op. 2 von Alban Berg (1909 bis 1910).
Die neue Wiener Schule stand damals noch im Banne des "Tristan" und der Spätromantik. Man hört erst Vorklänge späterer Neuerungen, plötzliche Intervallsprünge, harmonische Abweichungen, Loslösung vom Herkommen. Wichtig ist dabei die Bindung an erlesene Gedichte von Dehmel, George, Mombert und anderen.
Fischer-Dieskau war als Sänger und als Gestalter (gestern im SFB-Sendesaal) unüberbietbar im Dienst seiner Aufgabe, beiseitegeschobene Schätze aus der Jugend unseres Jahrhunderts aufzuheben und ihre Kostbarkeit vorzuweisen.
Sein idealer Partner am Flügel war Aribert Reimann, der morgen seine große Stunde als Ballettkomponist haben wird. Reimann ist ein Meister sensibler Einfühlung; er hat nie besser begleitet.
Als Uraufführung stellte Fischer-Dieskau die "Terzinen" Wolfgang Fortners nach poetisch-nachdenklichen Versen Hofmannsthals vor, vier lyrische Gesänge in nachspürender Ausdeutung der Worte, musikalisch gediegen und kultiviert. Die äußerst verfeinerte Wiedergabe trug dem anwesenden Komponisten den Sympathiebeifall des vollen Saals ein.
W. S.
Telegraf, Berlin-West, 7. Oktober 1970
Berliner Festwochen 1970
Vergessenes und Neues
Liederabend Fischer-Dieskau
Das Programm trug auf der Titelseite die Aufschrift "Dietrich Fischer-Dieskau singt neue Lieder", darunter den Vermerk "Musik der Gegenwart". Aufgeführt wurden ganz überwiegend Gesänge von Schönberg, Webern und Berg, die zwischen 1899 und 1910 geschrieben sind, Wie, leben wir denn nicht im Jahre 1970? Oder genießen die Wiener Expressionisten nach dem Willen (oder der Willkür) ihrer Laudatoren den Vorzug ewiger Gegenwärtigkeit? [...]
Niemand würde auf den Einfall kommen, Lieder von Hugo Wolf als Musik der Gegenwart zu bezeichnen. Und doch sind Wolf und Mahler die Vorbilder, von denen die genannten Komponisten ausgehen. Ihre Lieder sind nicht neu, sondern alt und - vergessen. Einzelne mit Unrecht vergessen. Gleich das erste von Schönberg "Erwartung" ist klanglich sehr reizvoll. Webern begnügt sich schon hier mit andeutenden Klängen, und die gleichsam verlorenen Schlüsse in "Am Ufer" und "Dies ist ein Lied" weisen schon auf das Filigran seiner Miniaturen.
Ihnen schlossen sich als wirklich neue, an diesem Abend uraufgeführte Lieder vier Stücke auf Texte aus Hofmannsthals Terzinen von Wolfgang Fortner an. Fortner hat sich in Hofmannsthals Meditationen über die Vergänglichkeit und die Schönheit des Lebens, das ihm eben darum so schön erscheint, weil es vergänglich ist, liebevoll versenkt. Auch seine Mittel sind, ähnlich wie die Weberns, sparsam. Sie decken die Gedichte nicht zu, sondern erhellen sie. Dem ersten und dritten Lied folgt ein Zwischenspiel am Klavier, und gerade das zweite gehört zu Fortners köstlichsten Eingebungen.
Dietrich Fischer-Dieskau setzte seine hohe musikalische Intelligenz und den Wohlklang seines Baritons mit der bei ihm gewohnten Gestaltungssouveränität ein und hatte in Aribert Reimann den idealen Partner am Flügel (Großer Sendesaal des SFB).
K. W.
Die Welt, Hamburg, 7. Oktober 1970
Analyse und Deutung in idealer Balance
Liederabend Fischer-Dieskau im Sender Freies Berlin
Das immer wieder Überraschende an der Kunst Fischer-Dieskaus ist es, zu hören, wie sich in seinem Liedvortrag ein musik- und textanalytischer Prozeß in strömenden Gesang verwandelt. Mag mitunter selbst ihm diese fleckenlose Verwandlung nicht voll gelingen, das Pendel einmal stärker zum Analytischen, das andere Mal heftiger zum Wohltönenden ausschlagen, mit dem er Licht und Schatten über Stärken und Schwächen einer Komposition fallen läßt: Was ihn zum unübertroffenen Liedinterpreten macht, ist eine beinahe schlafwandlerische Fähigkeit, der idealen Balance aus Analyse und Exegese so nahe wie möglich zu kommen.
Seine Kunst entfaltet sich in diesem Festwochenprogramm mit Liedern Schönbergs, Weberns, Alban Bergs und Fortners auf unvergleichliche Weise - und sie wird von Aribert Reimann am Flügel aufs eindringlichste zur Geltung gebracht und akzentuiert. Fischer-Dieskau und Reimann lieben Strukturen nicht nüchtern; bloß: Sie offenbaren sie in all ihrer Transparenz und Feingliedrigkeit - zwei Musiker, deren Können und Sachverstand sich im Dienste der Komponisten zu einem Zwiegesang beflügeln, der selbst bescheidenere Stücke bedeutend macht, die bedeutenden aber vollkommen.
Von dieser Interpretation der Makellosigkeit profitieren auch Fortners Gesänge zu Hofmannsthals Terzinen: Kompositionen von 1963, die durch zwei Zwischenspiele die vier Lieder zu zyklischer Einheit binden. Es sind Stücke von verhaltenem Ausdruckswillen in gebändigten, etwas spröden Formen, die aber in ihrer anspruchsvollen Kantabilität bereits Fischer-Dieskau als Interpreten zu visieren scheinen. Kein Wunder, daß er diesen Liedern und ihrem Komponisten einen großartigen Erfolg ersang.
Fischer-Dieskau gelang es aber auch mit den Liedern Schönbergs (aus Op. 2, 3, 6, 24 und 48), Weberns (aus Op. 3 und 4; und vorangehende Lieder) und Bergs (Op. 2) die Wandlungen des Frühwerks der Komponisten zu jenen freien Formen eindringlich vorzuführen, die noch heute, 60 Jahre nach ihrer Niederschrift, als "neu" ansprechen zu müssen, eine eher traurige Tatsache ist. Der Beifall jedenfalls war ebensowenig "neu". Er stürzte in donnernd-spätromantischen Kaskaden dem Sänger und seinem Begleiter entgegen.
Klaus Geitel
Westfälische Nachrichten, Münster, 7. Oktober 1970
Festwochen brachten Fortner-Uraufführung
Fischer-Dieskau ein sensibler Interpret des Lieder-Zyklus
Musikalische Ur- und Erstaufführungen standen auf dem Programm der Berliner Festwochen. Ein bereits 1963 geschriebener Lieder-Zyklus von Wolfgang Fortner wurde von Dietrich Fischer-Dieskau zum ersten Mal vorgetragen. Das Publikum bedachte den bei der Uraufführung anwesenden 60 Jahre alten Komponisten, den hervorragend disponierten Sänger und seinen einfühlsamen Begleiter Aribert Reimann mit lebhaftem Beifall.
Fortner hat vier Terzinen Hugo von Hofmannsthals ("Noch spür’ ich ihren Atem auf den Wangen", "Die Stunden, wo wir auf das helle Blauen des Meeres starren", "Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen" und "Zuweilen kommen niegeliebte Frauen") vertont und ihnen zwei Zwischenspiele für Klavier beigegeben, die Reimann pointiert darbot. Die Expressivität der Tonsprache Fortners und die formgebändigten Klangstrukturen treten in einen Dialog mit Ausdruck und Maß der Hofmannsthalschen Verse. Fischer-Dieskau folgte Fortners Musik und Hofmannsthals Gedichten bis in ihre feinsten Verästelungen und wurde dem Zyklus ein sensibler Interpret.
[...]
Autor unbekannt
Westfalen-Blatt, 13. Oktober 1970
Fischer-Dieskau sang neue Lieder
"Terzinen" von Hofmannsthal/Fortner uraufgeführt
Während der Berliner Festwochen sang Dietrich Fischer-Dieskau "Neue Lieder" im fast ausverkauften Saale des Funkhauses. Ihm gelang es, wie es kaum einem zweiten gelingen dürfte, jedes Wort, jede Silbe musikalisch zu formen und zu durchleuchten. Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg hatten für ihre Kompositionen besonders schöne Gedichte von Dehmel, Keller, Avenarius, Mombert, Hebbel usw. verwendet. "Terzinen" von Hugo von Hofmannsthal waren die Uraufführung einer Komposition von Wolfgang Fortner.
Allen diesen Liedern ist ein gewisses Gleichmaß eigen, eine feste Form, aus der Gefühlsausbrüche schwer denkbar sind. Noch schwieriger die Terzinen, für die der anwesende Komponist viel sympathisierenden Beifall entgegennehmen konnte. Das Wiedersehen mit Fischer-Dieskau bei einem so schwierigen Programm war äußerst erfreulich; das Publikum dankte herzlich.
Am Flügel saß Aribert Reimann, der mit außerordentlicher Delikatesse den Gesang begleitete.
Margarete Höpker Aschoff
Kurier, Wien, 9. Oktober 1970
Neues vom Tage
Maderna, Ligeti, Fischer-Dieskau im Sendesaal von SFB
[...]
Weil nun einmal das "Zeitgenössische" in der Musik zeitlich mit dem Einbruch der Atonalität und der ihr nachfolgenden Erfindung der Zwölftontechnik gleichgesetzt wird, kam ein von Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann gegebener Abend im Großen Sendesaal des SFB unter dem Titel "Neue Lieder" angesegelt. Die betagtesten unter ihnen präsentieren sich als rüstige Siebziger (Gesänge von Schönberg und Webern), die jüngsten als sieben Jahre der Uraufführung harrende Hofmannsthal-Terzinen in Wolfgang Fortners Vertonung: Sie sind dem Wort, dem Sprachrhythmus verpflichtet und suchen den dunklen Bildern in ihrer verhaltenen Schönheit auch in der differenzierten Harmonik des Klavierparts gerecht zu werden.
Wie sehr ein solcher Abend die ganze Persönlichkeit eines Interpreten fordert, ließ Fischer-Dieskau keine Sekunde lang vergessen. Sicherheitshalber vor einem Notenpult stehend, gestaltete er die insgesamt 26 Gesänge mit gewohnter geistiger Konzentration, überlegener Musikalität und differenziertem Ausdruck. Daß er Schönbergs wenig glückliche Liebe zur Gattung Lied nicht zur Gänze kaschieren konnte, war vorbestimmte Interpretenpflicht.
Um so überzeugender vermochte er dafür die Poesie der Webern-Gesänge zu vermitteln, ihren lyrischen Zauber auch in spröder Reihenordnung. Folgerichtig klug gewählt das Finale mit Alban Bergs Vier Liedern, op. 2, mit jenem Komponisten also, dem die zweite "Wiener Schule" ihren Durchbruch verdankt.
Lebhafte Zustimmung nach den einzelnen Liedgruppen, Sonderapplaus für den anwesenden Fortner. Hervorragend der pianistische Helfer Aribert Reimann, ein exzellenter Mitgestalter. Und mehr noch als bei Maderna: viel Publikum im Saal.
Herbert Schneiber
Berliner Sonntagsblatt "Die Kirche", Berlin-West,
25. Oktober 1970
Musik der Gegenwart
Lieder von Arnold Schönberg, Anton Webern, Wolfgang Fortner und Alban Berg brachte Dietrich Fischer-Dieskau im großen Sendesaal des Rundfunkhauses zu Gehör. Fischer-Dieskau besitzt die Stimmkultur des exzellenten Liedersängers wie eh und je. Aribert Reimann erwies sich ihm künstlerisch ebenbürtig als sensibler und feinnerviger Begleiter am Flügel. Sowohl die sozusagen nachtristanisch anmutenden Kompositionen als auch die späteren, dem 12-Ton-Reihenprinzip mehr entsprechenden Gesänge wußten die beiden ausgezeichneten Interpreten ganz überlegen zu gestalten. Fortners "Terzinen" nach Versen von Hugo von Hofmannsthal, geschrieben 1963, fanden an diesem Abend ihre Uraufführung. Geprägt von den wundersamen Texten, getragen durch vollendete Wiedergabe wurde diese, durch zwei Klavierzwischenspiele unterbrochene Liedgruppe zum Mittelpunkt eines schönen Festwochenbeitrages.
KNP
BZ, (Berliner Zeitung), Oktober 1970
Dietrich Fischer-Dieskau enttäuschte
Berg als Höhepunkt
Es klang, als ob er seinen Schubert oder Schumann zelebrierte. Doch das Erspüren jeder Gefühlsschwebung, das Fischer-Dieskau sonst zum größten Liedersänger unserer Zeit macht, war diesmal störend. Sein Festwochen-Liederabend gehörte der allerspätesten Spätromantik an, der musikalischen und geschmacklichen Zeitenwende, in der die Zwölftonmusik heraufdämmerte.
Schwulstige Texte liebte man damals, voll unkritischer Ich-Seligkeit und Wehleidigkeit. Für Lebenswahrheit hielt man das. Heute wirkt das eher peinlich. Wenn einer jede Tiefe der Gefühlswucherungen von Dehmel, George, Avenarius, Greif, Conradi auslotet, wirkt’s um so unechter ("Ich stöhnte nur leise: verlassen...").
Drüberwegsingen wäre da besser und instrumental nur die Töne Schönbergs und Weberns produzieren. Unsere Meinung: eine weniger sensible und ausdrucksärmere Stimme als die des großen Fi-Di wäre diesmal dienlicher gewesen. Lieder von Wolfgang Fortner auf Hofmannsthals Terzinen bekamen den meisten Beifall (der Komponist war anwesend). Musikalischer Höhepunkt: Alban Bergs Lieder. Hier wurden die Texte in eine musikalische Wirklichkeit übergeführt, die den platten Sinn übertönt. Fischer-Dieskau wurde gefeiert wie immer.
Enno Wymer
Petrusblatt, Berlin, 11. Oktober 1970
Liederabend mit Fischer-Dieskau
Im nahezu überfüllten Sendesaal des Rundfunks in der Masurenallee interpretierte Dietrich Fischer-Dieskau, von Aribert Reimann am Flügel assistiert, Lieder von Arnold Schönberg, Anton von Webern, Wolfgang Fortner und Alban Berg.
Die größtenteils gesanglich komplizierten Lieder trug der sympathische Bariton mit perfekter Durchdringung der musikalischen Materie und ausdrucksvoller Gestaltung des textlichen Inhaltes vor: Fischer-Dieskaus Tenerazza-Piano hat, bei der Ausdeutung feinpoetischer Episoden, etwas Bestechendes, ebenso seine besonders markierten dramatischen Akzente, so in dem ergreifenden Lied von Arnold Schönberg "Verlassen" - Worte von Hermann Conradi - oder in Alban Bergs zart-geistiger Tonzeichnung "Warm die Lüfte" - Alfred Mombert. Um die Gesangsmelodie "Vorfrühling" - Text von Ferdinand Avenarius - rankt sich eine feinempfundene Klavierbegleitung, die Übergänge vom Spätimpressionismus bis zum Expressionismus hörbar erkennen läßt.
Viel Resonanz erzielten die Terzinen Wolfgang Fortners nach Poesien von Hugo von Hofmannsthal. Aribert Reimann verlieh den poetischen Worten wohldurchdachten Auftakt am Klavier. Starker, anhaltender Beifall.
F. K. G.
Ruhr-Nachrichten - Essener Tageblatt -, 7. Oktober 1970
Berliner Festwochen
Fortner-Lieder uraufgeführt
Fischer-Dieskau sang
Musikalische Ur- und Erstaufführungen standen am Montag auf dem Programm der Berliner Festwochen. Ein bereits 1963 geschriebener Lieder-Zyklus von Wolfgang Fortner wurde von Dietrich Fischer-Dieskau zum erstenmal vorgetragen. Das Publikum bedachte den bei der Uraufführung anwesenden 60 Jahre alten Komponisten, den hervorragend disponierten Sänger und seinen einfühlsamen Begleiter Aribert Reimann mit lebhaftem Beifall.
[...]
Autor unbekannt
Wiesbadener Tagblatt, 15. Oktober 1970
Berliner Festwochen in der Baisse der Neuen Musik
Uraufführungen zwischen Tradition und Avantgarde
[...]
Es fügte sich zu dieser Tendenz der schöpferischen Auseinandersetzung mit der Tradition, daß ein ungewöhnlicher Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus unversehens in das Zentrum der Festwochen rückte und mit vielen Enttäuschungen versöhnte. Der Bariton stellte weithin unbekannte frühe Lieder von Schoenberg, Webern und Berg vor, die stilistisch zwischen Spätromantik (Strauss, Wagner) und neuen Visionen einer ausgesparten melodischen Linie stehen: expressiv bestimmt und im Klavier sparsam aber - bei Webern besonders - erregend bis unheimlich differenziert und konzis. Wolfgang Fortners neue Terzinen nach Hofmannsthal schlossen da sinngemäß im Stil an, wenn sie auch das Wort-Musik-Verhältnis endgültig aus romantischen Bezügen befreien, eine indirekte musikalische Deutung demonstrieren, die sich bemerkenswert wirkungsreich ausnahm.
Allerdings hat Fischer-Dieskau von der Wiedergabe her die geistig-musikalischen Hintergründe so faszinierend ausgeleuchtet, daß der Hörer erstaunt und gebannt folgen konnte. Keiner vor ihm sang Schoenberg und Webern so minutiös erarbeitet vom Sinn der Melodiengestaltung her. Plötzlich begriff man - unmerklich, vom geformten Ausdruck her, nicht etwa durch intellektuelle Überredung gezwungen -, was diese Komponisten wollten und wie sie in Wahrheit wirken können..
Unerwartet machte dieser Abend also wett, was etwa die Deutsche Oper mit dem Studio-Programm in der Akademie der Künste gesündigt hatte .... [...]
Wolf-Eberhard von Lewinski
Neue Zürcher Zeitung, 20. Oktober 1970
Westberliner Festwochen-Musik
Eine Bilanz
[...]
Während Jakob Lateiner seinen genial-verrückten Vortrag der Beethoven-Sonaten 109 bis 111 und das Parrenin-Quartett die Uraufführung von Krzysztof Pendereckis in bewährter Cluster- und Glissando-Manier mehr repetiertem als komponiertem Zweitem Streichquartett vor fast leerem Hochschulsaal ausführten, hatte Dietrich Fischer-Dieskau trotz unpopulärem Programm einen vollen Großen Sendesaal im Rundfunkhaus. Er brachte Lieder der Schönbergschule von 1899 bis 1933 und als Uraufführung vier Terzinen von Wolfgang Fortner. Schönbergs und Weberns frühe Lieder sind spätromantische Blüten von etwas verblassendem Stimmungsreiz. Doch war es reizvoll, zu verfolgen, wie sich von Schönbergs Opus 2, 3 und 6 über die Ballade vom Verlorenen Haufen bis zum ersten Stefan-George-Lied aus Opus 14 und später den Haringer-Liedern op. 48 die neuen Energien einer von der Tonalität wegstrebenden Sprache herausschälen und der geistig bescheidenere Webern diesen Weg nachgeht. Die einheitlichste Wirkung vermittelten Alban Bergs Hebbel- und Mombert-Lieder am Programmschluß. Dazwischen stand Fortners durch ein Zwischenspiel verbundener Zyklus, seltsames Produkt der Kreuzung aus Jugendstilversen Hugo von Hofmannsthals und einer konstruktiv gehärteten Musiksprache um das Zentrum der melodisch weitgespannten Singstimme. Fortner hat bessere nie geschrieben als diese von Lyrik zur Dramatik ausgeweiteten Kanzonen mit den eindringlichen Schlüssen. Vom Lied ausgegangen, hat Fischer-Dieskau im Theater gelernt, dem Ausdrucksgleichklang von Wort und Musik nachzuspüren. Die musikalische Intelligenz, die Kultur der Tonbildung machen seinen Vortrag zum sublimen Genuß. Aribert Reimanns kongeniale Partnerschaft am Flügel war in den Erfolg einbezogen. Fortner teilte ihn mit beiden Interpreten.
[...]
H. H. Stuckenschmidt