Zum Liederabend am 26. April 1971 in Stuttgart


     Stuttgarter Zeitung, 30. April 1971     

Des weniger Guten zuviel

Dietrich Fischer-Dieskau in der Stuttgarter Liederhalle

    

Dietrich Fischer-Dieskau trat in seinem letzten Stuttgarter Konzert mit einem Programm auf, das, sich auf Schubert beschränkend, weitgehend aus selten gesungenen, zum Teil sogar aus fast unbekannten Liedern des Komponisten bestand. So sehr nun aber eine solche, aus umfassender Kenntnis des Schubertschen Liedschaffens getroffene Auslese grundsätzlich zu begrüßen war, so hatte der Sänger in diesem Fall, besonders was die beiden letzten Liedgruppen des Abends betrifft, vielleicht etwas zuviel des Guten getan. Oder eigentlich: des weniger Guten, denn von manchen dieser Lieder hatte man den Eindruck, daß sie im Gesamtwerk des Komponisten nicht ganz zu Unrecht ein verborgenes Leben führen.

Aber freilich, an solchen Schöpfungen konnte sich dann die Gestaltungskraft Fischer-Dieskaus doppelt erweisen. Und diese zeigte sich nicht zuletzt gerade darin, daß er den betreffenden Kompositionen ihren eigentlichen Charakter bewahrte und nicht versuchte, ihnen durch gesangliches Raffinement eine Bedeutung zu unterschieben, die ihnen nicht zukam. Wie leicht wäre es zum Beispiel dem Sänger gefallen, in Mayrhofers "Auf der Donau" die sich in den Zeilen "Auf der Wellen Spiegel" und "Trauriges Gestrüppe" ausdrückenden Gegensätze stimmlich und musikalisch hochzuspielen. Nichts dergleichen: Das begann zwar in wundervoll fließender Bewegung und endete in einer Art meditativer Ruhe, aber wenn dies auch verschiedenartige Zustände sind, so gingen sie so gelöst ineinander über, daß die schlichte Einheitlichkeit des Liedes gewahrt bleib. Oder ein anderes Beispiel: "Die Vögel" nach Friedrich Schlegels Gedicht. Fischer-Dieskau nahm die erste Strophe ganz vom Melodischen her (Wie lieblich und fröhlich), legte in der zweiten stärkeren Nachdruck auf eine deutlich artikulierende Deklamation (Die Menschen sind töricht), und gab dann in der letzten eine Art Zusammenfassung dieser beiden Gestaltungsmöglichkeiten, ohne es dabei auf überraschende Wirkungen abzusehen.

In "Totengräbers Heimweh" allerdings konnte er dieser Versuchung nicht widerstehen - an die im Tonfall des Erlkönigs einsetzende, dabei sich inhaltlich wie musikalisch kaum von der ersten unterscheidende zweite Strophe ist hier gedacht. Wenn dies jedoch das einzige Mal war, wo sich Fischer-Dieskau zu einer Übertreibung verleiten ließ, so gab er andererseits auch nur einmal zuwenig; mit dem Lied "An Sylvia", das er (als dritte seiner fünf Zugaben) so schnell und mit so knapp abgeschnittenen Phrasenenden sang, daß der schwärmerische Zauber dieser Musik nicht spürbar wurde.

Ob es im übrigen aber die unbekannteren Lieder waren oder Kompositionen wie "Die Götter Griechenlands", "Nacht und Träume" oder "Prometheus" - das Bezwingende an all diesen Interpretationen war die unvergleichliche Kunst Fischer-Dieskaus, der einzelnen Vertonung bis in die letzte Schattierung des Ausdrucks zu folgen und sie zugleich als einfaches künstlerisches Ganzes erstehen zu lassen.

Daß der Sänger hierbei von Günther Weissenborn am Flügel aufs wirkungsvollste unterstützt wurde, versteht sich bei einem Pianisten, der so wie dieser sein Instrument bis in alle Feinheiten des Anschlags beherrscht, fast von selbst.

Wilhelm Riekert


   

     Stuttgarter Nachrichten,  28. April 1971     

     

Die gültige Lösung

Dietrich Fischer-Dieskaus Schubert-Abend im Beethovensaal

   

Millionen haben ihn gehört, jeder Musikfreund weiß von ihm, kaum einer kennt ihn direkter: Dietrich Fischer-Dieskau, Liedersänger des Jahrhunderts, unnahbarer Wundermann aus der Welt des Unwägbaren, war vom Liederhimmel herabgestiegen, betrat jovial lächelnd die Bühne des Beethovensaales und sang aus Schuberts Vorrat 18 Lieder und Zugaben.

Man mag zu Fischer-Dieskau stehen, wie immer man will; man mag an der Vollendung seiner Vortragskunst dahinschmelzen oder verzweifeln, man mag sich dagegen aufbäumen, sie in sich einsaugen; man mag sich mit den Liedinhalten identifizieren oder eben auch nicht; man konnte sich an diesem Stuttgarter Abend wohl in keinem Falle, keinem Takt, keiner Nuance eine gültigere Lösung vorstellen, als die von Fischer-Dieskau jeweils gebotene.

Seltsam - da akzeptiert man in unseren Tagen Stockhausens Geräusch-Quotienten, fühlt sich von antiromantischen Barbarismen animiert, goutiert Kagels Parodien, erkennt in Ligetis Abstraktionen Gegenwärtiges. Und dann kommt dieser Anwalt der Konvention und singt von drittklassigen romantisierenden Reimeschmieden (Mayrhofer, Jacobi, Schulze, Schlechta) Gewundenes zu Melodien und Klaviersätzen, die zum größten Teil (entstanden zwischen 1816 und 1827) nicht einmal zu Schuberts genialsten Erfindungen zählen, und man war dennoch fasziniert von der Gültigkeit dessen, was sich da vollzog und vor allem, wie es sich vollzog.

Vielleicht ist es eine gewisse Interpreten-Weisheit, die Fischer-Dieskau inzwischen von allem (einstigem) manieristischem Effekt befreit hat und die die Natürlichkeit der Illusion, also des Kunstwerkes freigibt und dieses somit überlebensfähig macht. Wie sonst könnten Gesänge wie "Gruppe aus dem Tartarus", "Litanei" oder "Totengräbers Heimweh" heute noch so halbwegs verbindlich wirken? Zum psychischen Diagramm geriet "Der Wanderer", dessen Interpretation wie die Selbstanalyse des Künstlers wirkte, der "froh umgeben, doch alleine" seine unabhängige Bahn zieht. Welch elementares Fluidum drückte sich im Gesang aus, den "Der Wanderer an den Mond" richtete, oder in der "Fischerweise".

Fischer- Dieskaus Vortragspräzision und Ausdrucks-Konzentration für sich genommen, bieten - und boten auch diesmal wieder - ein intellektuelles und artifizielles Erlebnis ersten Ranges. Doch was diesen Sänger nun wohl endgültig an die erste Stelle placiert, ist unvergleichbares Zusammenwirken von Übersinn, Naivität und Intelligenz; um den Preis gewisser Kontaktlosigkeit vielleicht, die auch einen so feinsinnigen, wenngleich unkompliziert wirkenden Begleiter wie Günther Weißenborn in fast unmerklicher Distanz beläßt.

Aber Distanzen sind lebensnotwendig, wenn man als Künstler gerade dieses Metiers das Sentiment von. Sentimentalität rein halten will. Und ein Lieder-Darsteller wie Fischer-Dieskau, dem die Forte-Stimme - im Gegensatz zu wundersamen Piano- und Mezzotönen - nicht mehr nur reines Gold bringt, muß auf seiner Gratwanderung wohl primär unnahbar bleiben. Auch wenn das Publikum zur Rampe drängt.

Dieter Schorr


   

     Göppinger Zeitung, April 1971     

   

Fürstliche Schubertiade

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Günther Weissenborn

     

Eine Schubertiade im großen Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle abzuhalten, kommt fast einer Vergewaltigung ihres intimen Charakters gleich. Trotzdem wird niemand leugnen können, daß der ausschließlich Schubert gewidmete Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Günther Weissenborn am Flügel den vollbesetzten Monsterraum völlig ignorierte. Atemlose Stille während des Konzerts, ein frenetischer, mit Bravo-Rufen lautstark untermalter Beifall, der beiden Künstlern galt, sowie am Schluß ein spontaner Wettlauf der Zuhörer vor zum Podium, waren deutlicher Beweis dafür, daß Dietrich Fischer-Dieskau - zur Zeit eine Rarität im Konzertsaal - weder an seiner (phänomenalen) Beliebtheit, noch - und dies ist wohl letztlich ausschlaggebend - an Kraft und Stimme eingebüßt hat. Im Gegenteil: der Eindruck verstärkte sich im Laufe des Abends, daß seine Stimme an Umfang und vor allem Tiefe gewonnen haben könnte.

Und nicht allein das. Fischer-Dieskau begreift das Lied weder ausschließlich nur von seinem musikalischen Gepräge aus, noch ist er bloßer Rezitator des Gedichts; sein Vortrag umfaßt das gesamte Wesen, gewissermaßen das Phänomen "Lied", wie es Schubert als große gleichgewichtige Einheit von lyrischer Poesie, menschlicher Stimme und Klaviermusik gefühlt und verstanden wissen wollte.

Einfühlung im Sinn des Wortes, darin liegt Dieskaus Größe, darin, daß er Schubert (und damit indirekt Mayrhofer, Schiller, Goethe, Schlegel, Schulze, Seidl und andere) nicht entromantisiert, ihm vielmehr seinen uneingeschränkten Status als der "Vater" des romantischen Lieds beläßt, ihn nicht zugunsten einer nüchternen (weil populären) Ausdrucksweise schmälert.

Daher gebührt dem 48jährigen Dietrich Fischer-Dieskau immer noch der Lorbeer. Denn sein Gesang vermag zu weinen, zu schluchzen, kann donnern, grollen, einhämmern, ist weich und biegsam, voll Innigkeit, voll Verzweiflung. Die Skala romantischen Sich-Ausdrückens, Sich-Offenbarens kann nicht farbig, vielschichtig genug sein - Dieskau gewinnt dem Kraft und Melancholie innewohnenden Schubert-Lied, sei es Schlegels "Litanei" oder Goethes quasi-opernhafter chromatischer "Prometheus", einen hohen Grad an Wärme und Eindringlichkeit, an romantischer Fröhlichkeit aus der Verzweiflung ab.

Man spricht im Zusammenhang mit dem Lied vom Klavierbegleiter. Eine solche Bezeichnung ist, an Schuberts Kompositionen gemessen, irreführend, denn das Klavier erfordert einen Könner, einen erfahrenen (nicht eigenwilligen) Virtuosen, der seinerseits seine höchst individuelle Partitur dem Gesang annähert, sich, immerzu gleichrangig, mit ihm verschmelzt.

Ob Gerald Moore oder Jörg Demus - immer fand Dietrich Fischer-Dieskau seinen kongenialen Begleiter; nicht zuletzt in Günther Weissenborn, durch dessen kluges, zurückhaltendes, samtig gedämpftes oder launisch dahinperlendes Spiel der Schmelz Schubertscher Klavier-Musik durchschimmerte.

Alles in allem: eine fürstliche Schubertiade.

Friedhelm Röttger

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