Zum Liederabend am 10. August 1971 in Salzburg


Die Presse, Wien, 12. August 1971

In Manierismus singen

Zum Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in Salzburg

[...]

Dietrich Fischer-Dieskau bringt im Herbst bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft eine Langspielplatte mit Liedern des 20. Jahrhunderts heraus. Er hat sie kürzlich bei den Münchner Opernfestspielen gesungen und gastierte nun, etwas variierend im Programm, jedoch nicht eben sehr, auch in Salzburg. Er sang Arnold Schönberg, Anton Webern, nach der Pause Wolfgang Fortner und dann Alban Berg. Ein seltsames Programm, das von Schönberg hochromantische Gesänge, von Webern wundersam alt klingende und von Berg erregend expressive Lieder mit altklug langweiligen Terzinen Fortners zusammenspannte, das einerseits nur in Andeutungen nachwies, wo die großen drei der Wiener Schule hinzielten und auf keine Weise klarstellte, was der Weg der Musik nachher war.

Dietrich Fischer-Dieskau, eines ausverkauften Saales gewiß, sang zum erstenmal nicht frei von der Leber weg, sondern brav nach den Noten, und das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte man nicht deshalb seinen berühmten Text im Programm kürzen müssen: er bittet immer, die Liedgruppen nicht durch Beifall zu unterbrechen und mit dem Wenden der Programmseiten zu warten, bis das Nachspiel des Pianisten zu Ende ist. Der zweite Wunsch blieb diesmal weg. Der Sänger selbst mußte oft umblättern während eines Liedes.

Als wolle er die Abhängigkeit vom Notenbild durch nach außen gewendete Gefühlstiefe wettmachen, sang Fischer-Dieskau in einer Spannung, die nur den kalt ließ, der nicht des Sängers, sondern der Lieder wegen gekommen sein mochte: so äußerlich, so übertrieben, so manieriert auch in der Färbung der Vokale und dem Verschleifen der Silben hat man den fleißigsten Sänger deutscher Zunge noch nie gehört. Da gab es Schleifer hinauf und hinunter, da wurde absichtlich eine Nuance neben der Note gesungen, da wurde hervorgehoben, was in einer Melodielinie bleiben sollte, da wurde zur Unzeit gedonnert - Fischer-Dieskau zur Potenz, offenen Ohres hörte man das und staunte.

Und noch einmal beiseite gesprochen: Als wollte er sich selbst in die nicht echt erfühlte, sondern anbefohlene Stimmung treiben, überspannte der sonst so geschmackvoll haushaltende Schauspieler Fischer-Dieskau auch die Übung mit dem Blick himmelwärts und dem geneigten Ohr und dem mitgeschwungenen Akkord bei Vor- und Nachspiel. Was sonst eingesetzt wird, um dem Publikum zu signalisieren, daß ein Lied allemal erst zu Ende ist, wenn auch der Pianist geendet hat, das war diesmal, wie bei gewissen Sängerinnen, Mienenspiel und stummer Körperklang. Manieriert auch das. Schönberg und Berg und Webern brauchen’s nicht, und Fortner half es wenig.

Das Publikum, es kaufte die Programme so eilig, daß schon vor dem ersten Glockenzeichen keines mehr im ganzen Haus erstehbar war, hielt wacker mit. Es war wieder einmal erfreut, daß Schönberg anhörbar ist und seufzte nur bei Fortner vernehmlich. Man geht wohl trotzdem nicht allzu weit am Ziel vorbei, wenn man annimmt, daß viele im Saal Franz Schubert lieber gehört hätten von ihrem Sänger.

[...]

Franz Endler


    

     Salzburger Nachrichten, 12. August 1971     

    

Eine große Wiener-Schulklasse

 

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder des 20. Jahrhunderts:
Schönberg, Webern, Fortner, Berg

     

Dietrich Fischer-Dieskau gab dem übervollen Saale "Lieder des 20. Jahrhunderts" zu lernen auf, er ließ sie hören und machte alles daran so deutlich, daß das Verständnis, fürs erste, so weit wie nur möglich um sich griff. Das war am Dienstag abend im Mozarteum. Man geht nicht fehl zu vermuten, daß die große, bis rings um das Podium dicht gereihte Zuhörerschaft noch nie so angestrengt auf den Sänger der Sänger des Jahrhunderts lauschte wie nun. Eine Klasse von Publikum empfing ein Pensum, das ganz auf ungewohnten Stoff konzentriert war. Dazu allerdings ein Interpret als Klasse für sich; und ein zweiter, Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, selbst Liederkomponist (nach Texten von Hölderlin bis Celan, Benn, Arp, Perse und Gabriella Mistral), der die Klavierstimme mit gleich sicherer, eindringlich geklärter Kenntnis der Formen vortrug. Diese Konstellation zweier Ausführender war Vorbedingung, und mehr noch Glücksfall für die allen gemeinsame Anstrengung des Programms, um das es sich lohnte, ganz still zu sitzen, zu hören, zu staunen, gespannt, gebannt oder befremdet zu sein, zuletzt zu danken und, mit dem größten Respekt vor den Künstlern, nachdenklich auseinanderzugehen. Ohne Zugaben. Applaus ohne Aplomb. (Ein heimliches Königreich – für einen Dominant-Septakkord!)

Zum Programm dieses Liederabends der Festspiele, welches vorher in Berlin und München viel beachtet und zugleich für eine kommende Schallplatte einstudiert wurde, sei angemerkt, daß es vielleicht, was Salzburg betrifft, um einen Grad zu didaktisch angelegt, zu sehr auf Schule, auf "Wiener Schule" fixiert war; anderseits wiederum doch nicht, da die Werkwahl gerade die Atonalität, in der ausgeprägten Form der Zwölf-Ton-Reihe, mied. Deshalb hörte man auch bei Schönberg selbst hier nur in zwei Liedern aus opus 12 und 14 ("Der verlorene Haufen" / "Ich darf nicht dankend") eine weitgehend freie Tonalität, wogegen die konsequente Methode seines persönlichen atonalen Reifestils weder durch eigene Beispiele noch durch diejenigen seiner Schüler Anton Webern (op. 3, op. 4) und Alban Berg (op. 2) an dem Abend vertreten war.

Ähnliches galt für die vierteilige Komposition "Terzinen" (nach Hofmannsthal) von Wolfgang Fortner (geb. 1907); ein sehr kontrastreich-expressives, auf machtvolle Steigerungen angelegtes Werk, dessen weite Intervallschritte (kleine None, große Septime) zwar an das eckige Zickzack beim späten Schönberg erinnern, im übrigen aber wesentlicher der naturalistischen, wort-malenden Liedpoesie verpflichtet scheinen, gleich jenen frühen Vertonungen, die wir von Schönberg vernahmen, und die so stark an Mahler denken ließen, auch an Wolf (in den beiden Keller-Liedern). Die Vier Lieder op. 2 von Alban Berg, von todbereitem Schlaf und schwerer Melancholie, ein jedes zu leidenschaftlichem Ausdruck ansteigend und dann wie in Asche erlöschend, stehen als ein Zeugnis der Auseinandersetzung mit Gustav Mahler, mehr als mit Schönberg, da.

Ich weiß nicht, für wie viele Meinungen ich spreche, wenn ich die Begegnung mit Anton Webern, hier ebenfalls in seiner ganz frühen Stufe (bis 1908), als die kennzeichnendste für den Weg zu dem eigenen Idiom einer Entfaltung eingeschätzt habe. Diese "fast ausschließlich lyrische Natur", wie er selber sich empfand, ist in den Liedern nach Avenarius ("Vorfrühling", "Gefunden") in "Bild der Liebe" (nach Greif), in der Dehmel-Vertonung "Am Ufer" (mit den zarten Verschlingungen von Klavier- und Singstimme an Wolf anklingend), vollends aber dann in den George-Liedern des opus 3 und 4 schon im Besitz jener musikalischen Aphoristik, die das Lyrische unmittelbar in die Gangart der Tonschritte umsetzt. Die kleine Form erfüllt sich ausschließlich am Material und wirkt auf den Hörer in diesem Sinne als absolute Musik. Das Webernsche Prinzip der Aussparung ist darin noch nicht angewandt, es liegt nahe; die Triole tritt auf, und die ungewöhnliche kontrapunktische Strenge weist auf den Spätstil der "lyrischen Geometrie" voraus.

Wie Fischer-Dieskau diese Metrik der von Phrase zu Phrase wechselnden Taktarten als eine scheinbar durchaus unkomplizierte, intime Beweglichkeit der Diktion übernimmt, wie er Temporückungen gleichsam einfließen und in der Artikulation den Ausdruck ganz in die musikalische Poesie zurückströmen läßt, das ist Atem des Gedichts, Gesang als Wort und Antwort. Aribert Reimann war dem Sänger in demselben hohen Verständnis zugeordnet.

Eine Frage zuletzt, weil der Aufbau des Programms mich, wie gesagt, als Problem berührte: Wäre nicht neben Webern, neben einem charakteristischen Schönberg – ab opus 15 – die musikalische Szenerie von "Liedern des 20. Jahrhunderts" bei anderen revolutionären Schöpfern, zumal der romanischen Welt, bei Debussy, und auf dessen Linie etwa bei dem genialen Meister der Jeune France, Messiaen, noch kräftiger zu erleuchten und, einer farbenreicheren Thematik zuliebe, für dieses so gespannte Publikum aufzuhellen gewesen? Der Ort des Festspiels ist, wie sich zeigte, unter idealen Bedingungen der Präsentation so empfänglich, wie man es nur wünschen konnte. Ein Wunsch in der Richtung des weiteren Gesichtskreises, über die "Schule" hinaus, blieb offen.

Max Kaindl-Hönig


     

     Kurier, Wien, 12. August 1971     

    

Salzburger Festspiele im Mozarteum mit Fischer-Dieskau

Lieder für Fortgeschrittene

Mit Werken von Schönberg, Webern, Fortner, Berg

    

Ein stilistisch geschlossener, anregender, durch Monotonie des Kompositionssystems und in der geringen Variabilität der Stimmungen, des Ausdrucks freilich auch über die Maßen anstrengender, un-lied-mäßiger Liederabend. Ein Konzert für Zwölftonspezialisten, ein Seminar für Fortgeschrittene, die erkennen dürfen, daß solche Zukunftsmusik längst Relikt der Vorvergangenheit ist.

Doch "Fi-Di" macht’s möglich, er füllt den Mozarteums-Saal, der auch dem Volumen des eher dürr gewordenen Baritons freundlich entgegenkommt, und den Rest besorgen die Gestaltungskraft des Sängers und dessen Popularität einerseits und andererseits die Treue einer großen Anhängerschar.

Solch günstige Konstellation nicht pädagogisch auszunützen, hieße in der Bundesrepublik eine Todsünde begehen. Also wird dies vermieden, und zwar gleich zu Beginn mit Schönberg-Vertonungen von Texten, die Dehmel, Keller, Klemperer, George u.a. geschrieben haben. Das Resultat ist bedrückend dürr und trocken. Doch der Beifall rauscht, wie er es im vergangenen Herbst in Berlin getan hat.

Webern, der Sensible, mit Harfen-Nerven Begabte, münzt seine Liebe zu Versen von Greif, Avenarius und den bedeutenden Lyrikern Dehmel und George vor allem in kostbar-scheue Tongebilde um. Sie sind kaum festzuhalten, so wenig ecken sie an.

Kräftiger packt der "Bluthochzeit"-Fortner zu, der stramme Wolfgang- Federico- Garcia- Lorca- Vertoner. Seine Hofmannsthal-Terzinen zählen zum Wertvollsten, das in den letzten zehn Jahren für die Liedliteratur geschrieben worden ist.

Den Gipfel erklimmt - wie sollte es anders sein - Alban Berg, der "Wozzeck"-Komponist, den tiefes literarisches Verständnis für poetische Sprache nicht daran hinderte, seine Phantasie und Gestaltungskraft zu höchstem Espressivo anzufachen. Hebbel und Mombert sind seine Favoriten, und beide dürfen sich im Musikerhimmel bei Berg bedanken.

Die Ausführung hatte hohen Rang. Dieskaus Gedächtnis, Gestaltungskraft, Musikalität feierte Triumphe. Aribert Reimanns Begleitung ließ keinen Wunsch offen. Das Publikum tobte.

Herbert Schneiber


   

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. August 1971     

   

Orchester, Stars, Problematisches

Salzburger Konzerte

    

[...]

Daß ein weltberühmter Sänger sich nicht mit klassischer und romantischer Musik der sicheren Erfolge begnügt, ist in unserem kommerzialisierten Betrieb selten. Dietrich Fischer-Dieskau nahm das Risiko auf sich, einen Abend lang Lieder des 20. Jahrhunderts zu singen. Der Erfolg des ausverkauften Mozarteum-Saals gab ihm recht. Das Programm, zuerst bei den Berliner Festwochen 1970 gezeigt, beginnt in chronologischer Folge mit frühem, mittlerem und spätem Schönberg, dem eine Gruppe Webern-Lieder bis 1909 angehängt war. Fischer-Dieskau versteht sich wie wenige auf die zwielichtigen, zehrenden Stimmungen der Dehmelschen "Erwartung" und des Stefan Georgeschen "Ich darf nicht dankend an dir niedersinken". Er dramatisiert die knappe Ballade vom "Verlorenen Haufen", macht die Haringersche Vision des "Sommermüd" greifbar. Sein Stilgefühl ist in diese Lieder seit der ersten Aufführung im September so hineingewachsen, daß Schönbergs Tonsprache unabhängig von tonaler Bindung, Befreiung und neuer zwölftöniger Bindung als Einheit hörbar wird.

Weberns naive Jünglingsversuche auf Texte von Avenarius, Greif und Dehmel waren so treuherzig vorgetragen, wie die fünf Lieder nach George in fast gesprochenem Halbschatten irisierten, darunter die Endvision des erlöschenden Herdes.

Wenn es möglich ist, die Kluft zwischen Hofmannsthals Vergänglichkeits-Terzinen und Wolfgang Fortners hochexpressiver und konstruierter Vertonung zu überbrücken, vermag es dieser begnadete Sänger. Und in Alban Bergs apokalyptischen Gesängen nach Hebbel und Alfred Mombert wird seine Stimme zum Sprachrohr früher Ausblicke in eine Welt, aus der "Wozzeck" hervorging.

Was für eine Vortragskunst, aber auch was für ein Farbenreichtum in dieser Stimme! Mit Aribert Reimann am Flügel wird der kurze Abend zum Ereignis inspirierter Partnerschaft im Dienst einer Musik der jungfräulichen Klänge. Das Publikum war ergriffen und dankte beiden für einen Genuß von seltener Art.

H. H. Stuckenschmidt


   

     Die Welt, Ausgabe B, Berlin-West, 24. August 1971     

    

Salzburgs Kasse stimmt noch immer

Konzertsommer 1971: Große Namen, aber wenig Originalität - Das Programm des Gefälligen überwog

    

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Dietrich Fischer-Dieskau, die deutsche Gründlichkeit in Person, ist geprägt von einem künstlerischen Ernst, der immer höher zielt. Natürlich wird ihm der Vorwurf nicht erspart bleiben, sein "enzyklopädischer" Ehrgeiz, gleich den ganzen Schubert und den ganzen Strauss einzuspielen, schiele allzu merkbar auf die Nachwelt. Aber zugleich kann er eines Respekts gewiß sein, der schwerer wiegt. Dietrich Fischer-Dieskau ist nicht müde geworden, neue Maßstäbe zu setzen.

Sein Salzburger Programm, das in Berlin bereits im vergangenen Herbst zu hören gewesen ist, nannte sich "Lieder des 20. Jahrhunderts". Das eigentliche Thema war damit freilich nur vage umrissen. Im Grund ging es ja nicht um das neue, sondern um das alte, überwundene Jahrhundert, so daß es zweifellos richtiger gewesen wäre, von der "Zeit des Übergangs" zu reden. Fischer-Dieskau machte sie am Liedschaffen der frühen Wiener Schule sinnfällig.

Was in diesem ungemein feinfühlig komponierten Programm in aller Klarheit herauskam, war die tiefe Verwurzelung der Wiener Schule in der Klangwelt der Romantik. Keiner der Prozesse, die allmählich in den Expressionismus hinübergleiten, läßt sich als ein revolutionärer "Bruch" verstehen. Stets bleibt die Tradition gegenwärtig, selbst in Schönbergs viel später entstandenen Haringer-Liedern "Sommermüd" und "Tot".

Soweit gebührte Fischer-Dieskaus gestalterischer Intelligenz uneingeschränkte Bewunderung. Wenn sein Abend, von Aribert Reimann überlegen begleitet, dennoch ein leises Gefühl des Unbehagens hinterließ, dann lag das daran, daß der Vorzug programmatischer Strenge zugleich auch Schwäche war. Vor allem für den Hörer wäre es nämlich reizvoller, den Schritt an die Schwelle nicht nur im Werk von Schönberg, Berg und Webern, sondern auch in den Liedern Mahlers, Pfitzners oder Regers getan zu sehen.

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Gerhard Brunner


    

     Weser-Kurier, Bremen, 21. August 1971     

    

Viel Anlaß zum Streiten

Kritischer Rückblick auf die Salzburger Festspiele 1971

    

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Zu begrüßen ist die Idee, Alban Bergs "Altenberg-Lieder" (gesungen von Halina Lukomska) ins Programm zu nehmen, gleichsam flankierend zum "Wozzeck". Dieter Fischer-Dieskau fügte noch vier Berg-Lieder in seinem Liederabend hinzu. Dieser Liederabend, der "Wiener Schule" gewidmet, wurde viel beredet. F-D singt neue Musik! Sang er wirklich? Nimmt man die schwachen Fortner-Lieder aus (die nur wegen der Hofmannsthal-Texte nach Salzburg paßten), so waren Webern und Berg recht gemäßigt, aber sehr hörenswert. Die Schönberg-Lieder stammten überwiegend aus einer sehr frühen Zeit und hätten beinahe noch von Brahms sein können (von einigen argen Texten gar nicht zu reden). Aber für F-D-Fans war es sicher schon schlimm. Daß sie trotzdem vollzählig waren, zeigt, was ein berühmter Interpret vermag.

Autor unbekannt

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