Zur Oper am 4. Oktober 1971 in Berlin


Berliner Morgenpost, 6. Oktober 1971

Figaro feierte in bester Gesellschaft Hochzeit

Zu zwei Festwochenaufführungen in der Deutschen Oper

Vor drei Jahren war Jessey Norman noch ein Geheimtip; heute ist sie eine der größten Versprechen für die Opernbühne mit begründeter Hoffnung auf Erfüllung. Natürlich war "man" in der 127. Aufführung von Mozarts "Figaros Hochzeit" zur Deutschen Oper gepilgert, um Dietrich Fischer-Dieskau in einer seiner Paraderollen zu bewundern, und die daran geknüpften Erwartungen wurden auch in jeder Hinsicht zufriedengestellt.

Doch das Ereignis des Abends hieß Jessey Norman. Der Spiegel dieser Frau ist ihre Stimme. Sie kann damit ausdrücken, was ihr Herz - in diesem Fall als Gräfin - bewegt: Jubel, Trauer, Schmerz, Eifersucht und wissende Vergebung.

Registerwechsel bleiben unhörbar, Oktavsprünge, schwierige Tonmodulationen und Triller werden als Selbstverständlichkeit beherrscht und in jeder Tonstärke geliefert. Frau Norman ist an dieser Stelle bereits mehrmals ein Spitzenstellung in ihrem Fach eingeräumt worden. Heute müssen wir uns berichtigen: Sie ist die Spitze.

Mit Erika Köth (Susanna), Barbara Scherler (Cherubino) und Manfred Röhrl (Figaro) war das hohe gesangliche Niveau dieser Festwochenaufführung gesichert. Auch die Vertreter der mittleren und kleineren Partien wurden den Ansprüchen, die an dieses Haus zu stellen sind, gerecht.

Musikalisch mußte man mit Mittelmaß vorlieb nehmen. Reinhard Peters, der bei der zügig gehandhabten Ouvertüre noch aufhorchen ließ, litt im Verlauf des Abends unter keinen brillianten Mozart-Inspirationen und sah sich kräftigen Buhs ausgesetzt.

Ursprünglich war Reynald Giovaninetti als Dirigent dieses "Figaro" angekündigt. Er konnte, nach Mitteilung der Oper "die Proben nicht wahrnehmen, da er wegen Nebels nicht nach berlin fliegen konnte". Man muß der Oper diese Begründung abnehmen, darf aber wohl deren Stichhaltigkeit bezweifeln; denn bisher ist noch jeder, der ernsthaft die Absicht hatte, auch in Berlin eingetroffen.

H. E.

________________________________

   

     Der Abend, Berlin-West, 5. Oktober 1971     

   

Festliches Paar

  

Die gestrige "Figaro"-Aufführung der Deutschen Oper begann mit einer doppelten Überraschung und endete trotzdem in glücklichster Stimmung. Dirigent und Titelpartie wurden kurzfristig umbesetzt. Man hatte dem ersten Auftreten des jungen Dirigenten Reynald Giovaninetti mit Neugier entgegengesehen, der in Marseille Opernchef ist und bei diessommerlichen Festspielen mit "Zauberflöte" und "Titus" als Mozartdirigent auffiel. Man wollte außerdem José van Dam als neuen Figaro kennenlernen und durfte von diesem rasch nach vorn gerückten Sänger einiges erhoffen.

Die Aufführung, seit acht Jahren im Spielplan, erhielt dennoch festliches Gepräge durch das von Dietrich Fischer-Dieskau und Jessey Norman verkörperte gräfliche Paar. er große Bariton war glänzend bei Stimme.

Ein Glücksfall ist die junge Amerikanerin Jessey Norman, deren Liederabend kürzlich Aufsehen erregte: Die Kunst, mit der sie jeden Ton bildet und jede Phrase aufbaut, ohne an Natürlichkeit zu verlieren, mit der sie jede Gemütsbewegung mimisch belebt, und von innen her gestaltet, ohne sich viel zu bewegen, trug ihr Ovationen ein.

Zu bewundern sind nach wie vor die schelmische, liebenswerte Susanne von Erika Köth und der bezaubernd aussehende, schön singende Cherubin von Barbara Scherler. Manfred Röhrl sang seinen bekannten Figaro, der in der Höhe und im Volumen nicht übermäßig viel zu bieten hat. Der Einspringer am Dirigentenpult, Reinhard Peters, bewährte sich über Erwarten gut. Dank seiner Aufmerksamkeit lief alles wie am Schnürchen.

W. S.

    

     B.Z., Berlin-West 6. Oktober 1971     

   

In der Deutschen Oper

Fürstlicher "Figaro"

    

Zwei "Figaro"-Debütanten und der erste Berlin-Auftritt des jungen Dirigenten Giovaninetti, Chef der Marseiller Oper, waren zur 127. Aufführung von Mozarts "Hochzeit des Figaro" in der Deutschen Oper Berlin angekündigt. Giovaninetti blieb im Nebel hängen und konnte an der Probe ebensowenig teilnehmen wie José van Dam, der erstmalig die Titelpartie singen sollte.

Zwei dicke Enttäuschungen für die Operngänger, die aber am Ende reichlich entschädigt wurden durch eine ausgewogene, stimmlich sehr harmonische Aufführung.

Denn neben Manfred Röhrl, der mit charmanter Routine und weniger Stimmglanz die Rolle des Figaro absolvierte, standen die hinreißende Jessye Norman und Dietrich Fischer-Dieskau.

Die noch sehr junge Norman singt schon jetzt die Partie der Gräfin mit so viel inniger Schlichtheit und stimmlicher Schönheit wie kaum eine andere, und Fischer-Dieskau erlebte man lockerer denn je als liebestollen Grafen, wenngleich er in seinen Arien ein bißchen auf die Tube drückte.

Erika Köth sang zuverlässig und süß wie immer die Rolle des Kammerkätzchens Susanna, dem der Graf lüstern nachstellt, und Barabara Scherler ist allein schon optisch der ideale Cherubin.

Reinhard Peters hatte für Giovaninetti die Leitung übernommen. Er dirigierte mit größter Sorgfalt und präzisen Einsätzen für die Sänger.

M. N.


   

     Spandauer Volksblatt, Berlin-West 10. Oktober 1971     

   

Revolution - als Komödie, als Tragödie

"Figaros Hochzeit" und "Dantons Tod" im Rahmen der Festwochen-Zyklen der Deutschen Oper Berlin

[...]

Immerhin sind auch für dieses Haus die raren Abende, an denen das Ensemblemitglied Dietrich Fischer-Dieskau auftritt, ein besonderes Ereignis. Dieser Sänger ist nach wie vor, auch unter den Spitzensängern, eine Ausnahmeerscheinung, vor allem wegen seiner gestalterischen Intelligenz, die ihn weit über die Ebene jedes noch so brillanten Stimmfunktionärs hebt. Er ist vollkommen. Wie macht er es, fragt man sich, mit dem eigenen Mythos zu leben und, sozusagen, ständig gegen die eigene Vollkommenheit anzusingen?

Er macht es auf jeden Fall mit leichter Hand. Fischer-Dieskau hat sich eine kontrollierte lockere Mühelosigkeit bewahrt. Was immer über seinen Ausdrucksextremismus bei Liedern der Romantik, gelegentlich nicht mit Unrecht, gemäkelt wird - er kann gänzlich unprätentiös sein. Die an sich doch eher undankbare Rolle des gefoppten Grafen in Mozarts "Figaro" gibt Gelegenheit, diese sichere Art des Beinahe-Understatements zu beobachten. Er ist, sobald er auftritt (und sogar darüber hinaus), der Chef auf der Bühne, wie er es ja auch der Handlung nach eigentlich ist - und bleibt dabei doch der sich einordnende Mitakteur. Fischer-Dieskau widersteht jeder Versuchung, sich besonders interessant zu machen. Seine Arie liefert er fast beiläufig ab. Dafür parliert er die Secco-Rezitative mit soviel Ausdruck, daß man geradezu schwören möchte, Italienisch zu verstehen.

Neben einem solchen Meister haben es die anderen nicht schwer, sondern leicht. Er zieht sie in ihre besten Möglichkeiten. Jessye Norman gibt denn auch der Gräfin die volle Wärme dieser elegischen Partie, und Erika Köth treibt, als immer noch unübertroffen launiges, quickes Susannchen mit silberner Stimme ihr Spiel. Bei José van Dams Figaro werden die grollenden Untertöne des Lustspiels von Beaumarchais am vernehmlichsten; er weiß nicht nur zu singen, sondern, ein Matti des Dix-huitième, seinem gräflichen Puntila die Leviten zu lesen.

[...]

Autor unbekannt

zurück zur Übersicht 1971
zurück zur Übersicht Kalendarium