Zum Konzert am 24. November 1971 in München


Süddeutsche Zeitung, 26. November 1971

Mahler-Dieskaus Tragödie in vier Liedern

Dietrich Fischer-Dieskau beim Philharmonischen Konzert im Herkulessaal

Dietrich Fischer-Dieskau hat im Herkulessaal, von Rudolf Kempe mit "magischem", das heißt: spezifisch mahlerisch-surrealem Orchesterklang begleitet, die "Lieder eines fahrenden Gesellen" gesungen. Er ist der Sänger der Mahler-Renaissance, der vokale Intimus einer Kunst der differenzierten Seelenzustände, die Stimme jener mittleren Generation, die heute Mahler als ihren Leidensgefährten empfindet. Fischer-Dieskau hat sich für Mahler verwandt, als solcher Entschluß noch ein Risiko war, als man von Kapellmeistermusik und tönender Ringstraßen-Architektur witzelte und Mahler dem Museum überstellte. Heute dehnt sich der Beifall bis in die halbe Konzertpause, damals wurde beklagt, daß ein Sänger mit so exzeptionellen stimmlichen Mitteln und so viel Geschmack einer sentimentalen Musik aufsitzen mag.

Was die "Lieder eines fahrenden Gesellen" vielschichtig und zum Interpretationsproblem macht, ereignet sich in Fischer-Dieskaus exemplarischer Auslegung wie von selbst: der intellektualisierte Wunderhorn-Tonfall, der melodische Nachklang Schuberts, der autobiographische Schmerzensausbruch, die Analyse einer desolaten Gemütsverfassung und der beängstigende Espressivo-Bogen vom gehauchten Kopfstimmen-Pianissimo bis zum atemversetzenden Fortissimo "Ich wollt’, ich läg’ auf der schwarzen Bahr’!" In den riesigen Legato-Bögen wie im Widerschein (nicht Nachahmung) einer stilisierten Vogelstimme, in der deklamatorischen Sorgfalt wie im leidenschaftlichen Zugriff äußert sich eine singuläre Übereinstimmung von geistiger Absicht und vokalem Gelingen. Die Gabe der Virtuosität und die Gabe der musikalischen Intelligenz - Geschenke, die nicht selten separat vergeben werden - wirken zusammen. Allein schon der Kunstgriff, durch ein sehr langsames Tempo des ersten Liedes die Hintergründigkeit des vermeintlichen Volksliedtons aufzuzeigen, gibt gründlicheren Aufschluß über Mahler als die wortreichste Analyse.

Mahler-Dieskaus Tragödie in vier Liedern flankierten die Philharmoniker mit zwei Symphonien: mit Mozarts "Linzer" (KV 425) und mit Schumanns Vierter. [...]

Karl Schumann


   

     Münchner Merkur, 27. November 1971     

    

"Ich hab’ ein glühend Messer..."

Viertes Phiharmoniker-Konzert: Fischer-Dieskau singt Mahler

    

Das vierte Symphoniekonzert der Philharmoniker begann mit der "Linzer" Symphonie in C (KV 425), so genannt, weil Mozart sie auf der Heimreise von Salzburg nach Wien 1783 in Linz für eine kurzfristig anberaumte Akademie "Hals über Kopf" schrieb. Kempe hat für Mozart - wir haben es auch in der "Zauberflöte" erlebt - die geistige Einfühlung und die leichte Hand.

Die Vielseitigkeit seiner Interpretationskunst zeigte sich ebenso in der Darstellung der Symphonie in d-moll von Schumann, in deren Aufbau und Durchgestaltung er beinahe vergessen ließ, daß manche Themen, besonders das erste, mehr vom Pianisten als vom Symphoniker erfunden sind. Besonders innig kam die verträumte Romanze.

Hatte Kempe kürzlich mit der ersten Symphonie von Gustav Mahler erwiesen, wie tief er in das Wesen dieses eigenwilligen Komponisten eingedrungen ist, so konnte er es diesmal in der Begleitung der "Lieder eines fahren Gesellen" zeigen, deren bei aller Schlichtheit raffinierter Orchesterpart klanglich und dynamisch nicht charaktervoller realisiert werden kann. Ich habe diese Lieder schon mehrmals von Fischer-Dieskau gehört, aber noch nie mit diesem eindringlichen Nebeneinander von Traurigkeit, naturhafter Freude an der schönen Welt, Verzweiflung ("Ich hab’ ein glühend Messer...") und stiller Resignation unter dem Lindenbaum über Lied und Leid und Welt und Traum.

Es war das ergreifende Kernstück des Konzerts, das den immer schöner spielenden Philharmonikern alle Ehre machte.

Heinz Pringsheim


   

     tz, München, 26. November 1971     

   

Musik in München

    

4. Abonnementkonzert der Münchner Philharmoniker unter Rudolf Kempe im Herkulessaal. Solist: Dietrich Fischer-Dieskau.

Schon eine Stunde vor Beginn in und um den Herkulessaal Dutzende von Kartensuchenden: die meisten bereit, fast jeden Preis zu zahlen. Und dann so gespannte Erwartung, daß sogar Mozarts "Linzer" Symphonie schier zu lang wurde. Womit den Philharmonikern sicher Unrecht geschah: Der Übergang vom Adagio ins Allegro spirituoso ist zauberhafter nicht vorstellbar.

Dietrich Fischer-Dieskau singt Gustav Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" nach wie vor sensationell. Wenn "das glühend Messer in die Brust schneid’t", ist kein Husten mehr zu hören im Saal, herrscht atemlose, gebannte Stille. "Und höre klingen ihr silbern Lachen": die Zeit scheint spurlos vorübergegangen an dieser Jahrhundert-Stimme.

Daß der Sänger nicht mehr über die Mühelosigkeit früherer Jahre verfügt, zeigt sich an einigen hohen Pianostellen: im 2. Lied beim "Sonnenschein", im 4. beim "allerliebsten Platz". Oder hat nur die Münchner Novemberluft die Stimmbänder ein bißchen angerauht? Was man trotzdem sagen darf: So ausdrucksstark hat diese Lieder noch keiner, schöner nur einer je gesungen: der junge Fischer-Dieskau.

Wilhelm Furtwängler, der Anfang der fünfziger Jahre die Gesellenlieder aufführte, soll damals gesagt haben, er verdanke Fischer-Dieskau ein neues Mahler-Verständnis. Etwas von diesem Geist mag der Sänger auch den Philharmonikern vermittelt haben. So betörende Klänge hat man von diesem Orchester kaum je zuvor gehört.

Jubel um Fischer-Dieskau und Rudolf Kempe, der zum Abschluß Schumanns

4. Symphonie sehr leicht, beschwingt - und ziemlich schnell - dirigierte.

H. R.


   

     Abendzeitung, München, 26. November 1971     

   

Münchner Philharmoniker im Herkulessaal

Erfolg auf Erfolg

    

Erfolg auf Erfolg ist von den Münchner Philharmonikern zu vermelden. Auch im 4. Abonnementskonzert (Herkulessaal) sorgte Chefdirigent Rudolf Kempe zusammen mit Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) für Spitzenleistungen.

[...]

Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" faszinierten durch die Präzision der Aufführung, durch eine nahezu ideale Verteilung der Aktivitäten zwischen Orchester und Solist. Hier dominierte der Komponist Mahler und nicht der "Star" Fischer-Dieskau. Musiker investierten Interpretenklugheit, eine rühmenswerte Sache, wie ich meine.

Helmut Lesch


   

     "Oper und Konzert", München, 1/1972     

    

Herkulessaal

Viertes Philharmoniker-Konzert

Fischer-Dieskau singt Mahler

[...]

Hatte Kempe kürzlich mit der ersten Symphonie von Gustav Mahler erwiesen, wie tief er in das Wesen dieses eigenwilligen Komponisten eingedrungen ist, so konnte er diesmal in der Begleitung der "Lieder eines fahrenden Gesellen" zeigen, daß deren bei aller Schlichtheit raffinierter Orchesterpart klanglich und dynamisch nicht charaktervoller realisiert werden kann. Ich habe diese Lieder schon mehrmals von Fischer-Dieskau gehört, aber noch nie mit diesem eindringlichen Nebeneinander von Traurigkeit, naturhafter Freude an der schönen Welt, Verzweiflung ("Ich hab ein glühendes Messer...") und stiller Resignation unter dem Lindenbaum über Lied und Leid und Welt und Traum.

Es war das ergreifende Kernstück des Konzerts, das den immer schöner spielenden Philharmonikern alle Ehre machte.

Dr. Heinz Pringsheim

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