Zum Liederabend am 24. Mai 1972 in Bremen


    

     Weser-Kurier, Bremen, 26. Mai 1972     

Verhaltene Stimmung

Bremer Meisterkonzert mit Dietrich Fischer-Dieskau

     

Liederabende von Dietrich Fischer-Dieskau zählen von jeher zu den ragenden Ereignissen im Musikleben. Seit mehr als 20 Jahren hat der gefeierte Bariton oft in Bremen gastiert. Als er hier vor vier Monaten wegen einer heftigen Indisposition zu dem vorgesehenen Sonderkonzert nicht erscheinen konnte, waren seine zahlreichen Anhänger über die plötzliche Absage bestürzt. Um so mehr freuten sich die Hörer, dass jener ausgefallene Schubert-Abend jetzt nachgeholt wurde und einen erhebenden Ausklang im Rahmen der festlichen, von der Direktion Praeger & Meier veranstalteten Reihe der Meisterkonzerte bildete.

Man kennt seit langem die vorbildlichen Programme des berühmten Sängers, der vielfach seine Vorliebe für den großen Romantiker bezeugt hat. Namentlich die geschlossenen Liederfolgen von Schubert, Zyklen wie "Die schöne Müllerin" und "Die Winterreise", blieben dank der tiefschürfenden Gestaltung in nachhaltiger Erinnerung. Sein stilistisches Feingefühl bekundete der begnadete Künstler wieder einmal bei einer lyrischen Auslese, die neben manchen bekannten Liedern auch viele seltener zu hörende Gebilde enthielt. Fast schien es so, als ob Dietrich Fischer-Dieskau diesmal auf jeden äußeren Effekt völlig verzichten wollte. Erst nach dem orkanartig anschwellenden Schlussbeifall zollte er den "populären Tribut". Aber, bei aller Meisterschaft einer Goethe-Vertonung: Die Zugabe des beliebten "Musensohn" riß förmlich aus der Stimmung jener wundersam verinnerlichten und fast traumhaft bannenden Wiedergabe, die zuvor dem Großteil der lyrischen Folge gewidmet worden war.

Jemand, der den vielseitigen Interpreten lediglich von der Opernbühne her oder als Balladensänger kennt, würde kaum ahnen, welcher Zartheit dieser modulationsreiche Heldenbariton fähig ist. Seine dramatische Intensität ließ er diesmal nur in den wenigen Gesängen ausstrahlen, die einen emphatischen Aufschwung erfordern. Markante Beispiele dafür boten namentlich Schillers "Gruppe aus dem Tartarus" (mit dem mächtigen Höhepunkt "Ewigkeit schwingt über ihnen Kreise, bricht die Sense des Saturns entzwei") und Goethes "Prometheus", wo das düstere Moll allmählich einem akkordisch geballten Dur weicht, das die stählerne Kraft des Titanen versinnbildlicht.

Das waren die wenigen balladesken Bestandteile der Vortragsfolge, die im übrigen hauptsächlich von besinnlichen Stimmungen erfüllt wurde. Da gab es neben anmutigen Weisen ("Auf der Donau") so schlichte Lieder wie "Litanei", "Freiwilliges Versinken", "Nacht und Träume" oder lieblich aufhellende wie "Die Vögel" und "Im Frühling", die Dietrich Fischer-Dieskau mit berückend zarten Schattierungsgraden sang. Die Kunst seiner Atemtechnik, vollendeten Phrasierung und Deklamation war in jeder Hinsicht bewundernswert. Den Reiz der herrlich quellenden Stimme und ihrem modulatorischen Reichtum konnte man besonders in der tiefgründigen Komposition von Schillers "Die Götter Griechenlands" ("Schöne Welt, wo bist du?") genießen. Unter den seltener aufgeführten Werken sei ein gespenstisch makabres Notturno wie "Totengräbers Heimweh" hervorgehoben.

Die klare, stimmungsvolle und poetisch beseelte Begleitung von Wolfgang Sawallisch am Bechstein-Flügel verband sich aufs empfindsamste mit der vokalen Glanzleistung. Es gibt nur wenige erstrangige Dirigenten, die ebensolche perfekten Pianisten sind wie der bayerische Generalmusikdirektor. Im ausverkauften großen Glockensaal folgte das Auditorium mit gespannter Aufmerksamkeit dem meisterlichen Liederabend. Lang anhaltender enthusiastischer Beifall dankte den beiden Künstlern.

Dr. Ludwig Roselius

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     Bremer Nachrichten,  26. Mai 1972     

Letztes Meisterkonzert: Dietrich Fischer-Dieskau sang

Unendliche Wanderschaft

    

Im großen Glockensaal brachte der im Januar ausgefallene Schubert-Lieder-Abend von Dietrich Fischer-Dieskau mit Wolfgang Sawallisch am Flügel einen großartigen Abschluß der Meisterkonzertsaison. Dietrich Fischer-Dieskau gilt seit langem als einer der berufenen und kundigen Schubert-Interpreten und hat das auch literarisch mit einer umfassenden und grundlegenden Arbeit bewiesen. ("Auf den Spuren der Schubert-Lieder; Werden, Wesen, Wirkung". Verlag F.A. Brockhaus, Wiebaden 1971, 371 S., 34 DM.) Und den Schubert-Sänger Dietrich Fischer-Dieskau kennzeichnet es schon lange ehrenvoll, daß er sich mit all seiner vokalen Qualität und künstlerischen Dignität für das Liedschaffen des jungen Romantikers einsetzt als umfassenden Ausdruck von dessen schöpferischer Persönlichkeit.

Wieder bot Dietrich Fischer-Dieskau mit seiner Schubert-Lieder-Folge nicht nur allerlei bisher wenig Bekanntes, sondern er erschloß mit ihr auch ziemlich ungeläufige Einblicke in Schuberts Fühlen und Erleben. Gleich das erste Lied "Der Strom" nach Johann Mayrhofer sprach seltsam aufwühlend weltschmerzlich an, und das ganz unbekannte "Der Wanderer" auf ein Gedicht von Friedrich Schlegel ließ etwas von einer bei Schubert nur selten spürbaren Weltfrömmigkeit ahnen. Konnte man den Gesang "Totengräbers Heimweh" als eine Vorahnung mystisch entrückten Brucknerschen Ausdrucks empfinden, so manches Lied an Sonne und Mond als Anreden an Weggefährten bei einer unendlichen Wanderschaft.

Überraschend an jeder Darbietung Dietrich Fischer-Dieskaus, der heute vielleicht der Sänger mit dem umfassendsten Repertoire ist, daß er jede Aufgabe zu der in sich durchgeformten und aufgerundeten Kostbarkeit zu gestalten weiß, die sie ist. Auch mit einem wie von ungefähr vor sich hingesungenen Liede wie der unbefangen sorglosen "Fischerweise" nach Franz Xaver von Schlechta weiß Dietrich Fischer-Dieskau den Hörer ganz unmittelbar anzusprechen zu einem Eindruck, als erlebte er das kleine lyrische Gebilde nicht im großen Konzertsaal, sondern im familiären hausmusikalischen Kreis.

Damit gelingt es ihm als eine besondere Leistung seines großen musikalischen Künstlertums und seines gesanglichen Könnens, den Lebensraum eines jeden dieser Schubert-Lieder ganz unzweideutig und zwingend zu vergegenwärtigen. Wolfgang Sawallisch ist dabei dem Sänger homogener Partner am Flügel. Er deutet und gestaltet jede Aufgabe in eigenem und oft sehr persönlichem Ausdruck mit, aber nirgends klavieristisch selbstzwecklich, höchstens, daß man manchmal meinen möchte, der Dirigent Sawallisch spüre in seinem pianistischen Wirken einem symphonischen Fluidum in der Schubertschen Begleitung nach.

Das ergab mehrfach aparte klangliche Wirkungen in reizvollem Kontrastieren und ergiebigem Miteinander, so daß man auch bei den wenigen bekannten Liedern des Programmes manches als einen ganz neuen Reiz und Eindruck erlebte.

Der Beifall wuchs schon im Verlaufe des Abends zum Ausdruck großer Begeisterung und er applaudierte sich so am Schluß noch Zugaben.

Fritz Piersig

 

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