Zur Oper am 23. August 1972 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 25. August 1972     

Münchner Festspiele

Mozart-Zauber

Karl Böhm dirigiert im Nationaltheater "Figaros Hochzeit"

   

Man sitzt in einer "Figaro"-Aufführung des Festspielprogramms und bemerkt gleich im ersten Duettino Figaro-Susanna kleine Tempodifferenzen zwischen Bühne und Orchester, die sich auch bei dem Huldigungschor der jungen Landleute für Almaviva wieder einstellen; daß Brigitte Fassbaender ihre erste Cherubino- und Claire Watson ihre erste Gräfinnenarie gleichsam mit "Schonung" singen, ohne die ganze Präsenz, die man sonst von den beiden gewohnt ist; daß die Fanfaren, die so herrlich ironisch losschmettern, wenn Figaro dem Pagen seine künftige "gloria militar" vor Augen gestellt hat, von den Trompeten ziemlich unartikuliert dahergeblasen werden. Und was dergleichen kleine Pannen mehr sind, deren im weiteren Verlauf der Aufführung sicher noch einige passiert sein werden. Aber da bemerkte man sie nicht mehr.

Woher das kommt? Daher, daß Karl Böhm für diesen einen Abend von Salzburg herübergekommen war ins Nationaltheater, wo er, ein halbes Jahrhundert ist’s her, einst unter Bruno Walter seine glorreiche Dirigentenlaufbahn begann. Er ist sozusagen in die hier im Repertoire stehende Inszenierung Rennerts hineingesprungen; für Proben, um die Aufführung musikalisch "auszuputzen", wird wohl die Zeit gefehlt haben. Von Perfektioniertheit, wie sie derzeit in Karajans neuem Salzburger "Figaro" geboten wird, kann keine Rede sein.

Aber was alles "Imperfekte" im Detail vergessen ließ, war das Fluidum, das einmalige, unnachahmliche Böhm-Fluidum, das vom Pult ausging, die Ausbreitung der ganzen Mozart-Landschaft in all ihrer unermeßlichen Herrlichkeit, in die man hineingeführt wurde, auch wenn es auf dem Weg dahin ein paar Unebenheiten gab. Wie gesagt, man bemerkte sie nicht mehr - irritiert und entzückt, gefoppt und beseligt von den Ereignissen des "tollen Tags", den Böhm, nicht nur ein großer Dirigent schlechthin, sondern auch ein eminenter Theaterdirigent, wie kein anderer auf beiden Schauplätzen der Komödie entfacht, dem äußeren, dramaturgischen, und dem inneren, psychologischen, in der Feudalwelt Almavivas und in den Seelen jener, die sie attackieren oder von ihnen attackiert werden.

Es ließe sich im einzelnen nachweisen, woran man die Gegenwart solcher musikalischen und musikdramaturgischen Interpretationsmeisterschaft spürt: etwa wie Böhm die Kunst der retardierenden Spannung beherrscht, welche Modifikationen er dem leichten, schwebenden Allegro abgewinnt, das er (wie einst Richard Strauss, wenn er "Figaro" dirigierte) als Grundzeitmaß nimmt (besonders vibrierend im Finale des zweiten Akts), wie er fließendes Tempo und Kantabilität zu vereinigen weiß. Genug, diese wenigen Bemerkungen mögen genügen, um anzuzeigen, was alles bei Karl Böhm zusammenwirkt, um, wie Alexander Berrsche von Strauss sagte, die "Atmosphäre Mozarts herbeizuzaubern".

Der Laune auf der Szene bekommt so etwas zuweilen sehr gut. Raimund Grumbach spielte mit seinem Figaro Witz und Gewandtheit mehr aus als innere Aufsässigkeit. Hinreißend , wie immer, Reri Grists Susanna, von delikater erotischer Dezenz, ein Ausbund an Charme und völlig unaufgesetzter, natürlicher Koketterie, in der Rosenarie vielleicht nicht die ganze "verräterische" Innigkeit des Empfindens offenbarend. Da auch Cherubino mit seiner Kanzone "Voi, che sapete" und die Gräfin mit ihrer C-Dur-Arie wieder "aufholten", das Terzett der Sekundarier (Lilian Benningsen als Marzellina, Benno Kusche als Doktor Bartolo und David Thaw als Basilio) sich trefflich hielt, kam das Ensemble zunehmend in die hier so wichtige Balance mit dem überragenden Almaviva Dietrich Fischer-Dieskaus. Keiner hat wie er das stimmliche Timbre, das grandseigneurale Air des Feudalaristokraten, keiner aber auch vermag wie er die Aufrichtigkeit einer inneren Umkehr glaubhaft zu machen: Wenn er sein "Contessa, perdono" beginnt, so ist das nicht mehr die Bitte eines "Galantuomo" um Vergebung für seine amourösen Unternehmungen und um Wiederherstellung des familiären Friedens - das ist, wie wenn mit dem melodischen Bogen dieser paar Takte der ewige Frieden in der ganzen Welt herbeigerufen werden sollte. Und dann das Mysterium jener vier anderen Takte, in denen mit dem zuletzt leise einsetzenden Paukenwirbel der Übergang zur Schlußstretta geschieht - fürwahr, es ist gänzlich unbegreiflich, selbst wenn man so nahe ans Geheimnis herangeführt wird wie von Karl Böhm.

K. H. Ruppel

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     Münchner Merkur, 25. August 1972     

Münchner Festspiele: Karl Böhm gastiert

Erst nach der Pause "Figaro"-Glück

   

Wenn Karl Böhm an der Staatsoper gastiert - er tut es leider selten genug -, erwartet man sich ein Fest. Diesmal gab’s fürs erste eine Enttäuschung: Dirigent wie Orchester wie Sänger brauchten zwei "Figaro"-Akte lang, um sich kennenzulernen, sich abzutasten. Was Sache einer Probe wäre.

Böhm schlug rasche Tempi an, zielte auf Agilität. Bei den Wiener Philharmonikern, die ihn ja gut kennen, hätte es sicher keine Probleme gegeben. Das Staatsorchester indes kennt ihn nur flüchtig.

Das Schlimmste war, daß der Klang flau und undeutlich blieb, daß Mozarts dramatische Aktivität nicht wenigstens angedeutet wurde. Musikalischer Verlauf und szenischer Fortgang sind hier ja eins: jede Pointe, jede Situation, die plötzlichen Stimmungsumschwünge (zweites Finale) werden in der Partitur mit allem Witz, aller Geistesgegenwart realisiert.

Vielleicht hatte Böhm den Eindruck, da sei nichts zu erzwingen. Er wartete ab, taktierte ruhig und knapp, korrigierte ein paarmal behutsam. Er wollte wohl den Musikern und den Sängern Zeit lassen, sich zu fangen. Und das zahlte sich aus: nach der Pause war fast alles in Ordnung.

Von Szene zu Szene spielte das Orchester sicherer. Es ging auf Böhms an diesem Abend mehr diskrete Art ein, entwickelte Subtilität, Flinkheit. Endlich konnte man Böhms fabelhaft elastischen Mozart-Stil bewundern, der sinnlich und süß ist und die hinreißende Theater-Realität dieses Werks so strikt wie elegant vergegenwärtigt.

Bloße Routine zunächst bei Brigitte Fassbaender (Cherubin), Raimund Grumbach (Figaro), Benno Kusche (Bartolo): sie sangen wie improvisierend. Claire Watson, eine empfindsame, charmante Gräfin, blieb die stimmliche Entsprechung dazu schuldig, nämlich Schmelz und blühende Kantilene.

Sofort präsent: Dietrich Fischer-Dieskaus konkurrenzlos intelligent gezeichneter Graf; Reri Grists wendige, gewitzte, mit leichtem Sopran singende Susanne; David Thaw, der aus dem Basilio virtuos ein boshaftes O-beiniges Domestiken-Kleinkaliber macht; Lilian Benningsens Marzelline.

Großer Beifall für eine Festspiel-Auffüührung, die in der ersten Hälfte mehr eine Verständigungs-Probe war. Den Profit davon, nämlich das ganze "Figaro"-Glück, dürften die Besucher von Böhms zweitem Gastspiel am Sonntag (in der gleichen Besetzung) haben.

Hans Göhl

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     Abendzeitung, München, 25. August 1972     

Böhm dirigierte "Figaro"

Reifer Herr giftet sich

[...]

Münchner Festspiele. Mozarts "Figaros Hochzeit" im Nationaltheater mit Karl Böhm am Pult, Inszenierung: Günther Rennert, Ausstattung: Rudolf Heinrich.

Im Finale des zweiten Aktes des "Figaro" gelangt das Fabelwesen Oper auf den höchsten Gipfel seiner Existenz. Gelingt dieses Finale, ist die Aufführung geglückt. Sie war’s unter Karl Böhms Stabführung, wenngleich die Probenlast offenbar so federleicht war, daß es anfangs recht wackelte. Bald aber spielte sich alles auf Böhms zwingenden Rhythmus ein. Man hat lange warten müssen, um das "Figaro"-Debüt des gefeierten Mozart-Dirigenten am Nationaltheater zu erleben. Das Orchester klang erstklassig.

Rennerts Inszenierung fließt nach wie vor anregend im Strom der Handlung und Musik dahin. Fischer-Dieskaus Graf dominierte als reifer Herr der Aufklärung, der noch gern seinen Spaß hätte und sich ganz schön giftet, wenn’s nicht klappt. Claire Watsons anmutige, stilvoll gesungene Gräfin, die süß impertinente Susanne Reri Grists, die prächtig bubenhafte Brigitte Fassbaender (Cherubino), Raimund Grumbachs braver Figaro, sowie Lilian Benningsen, Benno Kusche, David Thaw (!), Gerhard Auer, Hildegard Heichele waren die Akteure der beschwingten Aufführung.

Mingotti

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     tz, München, 25. August 1972     

Böhms Altershumor war ansteckend ...

Nationaltheater: "Die Hochzeit des Figaro"

   

Seit Günther Rennerts hochberühmte (Rokoko mit vorrevolutionären Blitzen erhellende) "Figaro"-Inszenierung von 1966 vom Salzburger Festspielplan verschwunden ist, wurde seine komödiantischere Münchner Version noch kostbarer.

Zusätzliche olympische Veredelung: Karl Böhm, Rennerts Salzburger Partner, dirigierte den "Figaro" erstmals in München, ließ den "Tollen Tag" nach anfänglichen Verständigungsschwierigkeiten mit dem Orchester mit beglückender Heiterkeit erstehen, trumpfte nie auf, schuf mit leichter Hand Atmosphäre, atmete im gleichen Rhythmus mit Mozarts Musik. Böhms Altershumor steckte an: Noch nie war das Ensemble derart spielfreudig gewesen, selten lacht das Publikum sonst bei den bekannten Situationen so herzlich wie diesmal.

Wie Rennert das Netz der Intrigen spinnt, ohne sich jemals darin zu verheddern, ohne einen Faden zu überspannen, ist immer wieder schierer Bewunderung würdig. Das Grafenpaar (Claire Watson und Dietrich Fischer-Dieskau), der Page (Brigitte Fassbaender), die selbstbewußten Domestiken (Reri Grist und Raimund Grumbach), die Intriganten (Lilian Benningsen, Benno Kusche, David Thaw) – in jeder Bewegung, jedem Augenaufschlag lebendigstes Meistertheater, von einem Meisterregisseur für Meistermimen ersonnen.

Wem von den Solisten gebührte an diesem Abend die Palme? Vielleicht Reri Grists Susanne, deren Kehlkopf voll bezaubernder Drolerie steckte. Oder Brigitte Fassbaender, deren leidenschaftlicher Page sich inzwischen zum sanfteren "Cherubino d’amore" gewandelt hat.

Im Schluß-Bravo gab es für Claire Watson auch Buhs. Mag sein, daß die dramatischen Partien wie Fidelio oder Sieglinde ihre Stimme für die flexiblen Gräfinnen-Arien zu groß werden ließen (obwohl sie immer noch über ein beachtliches Mozart-Pianissimo verfügt) – als Gesamtleistung von Bühnenpräsenz, Charme und Eleganz ist ihre Gräfin derzeit unerreicht. Übrigens: Vor exakt zwei Jahren wurde Fischer-Dieskau im Festspiel-"Figaro" nach seiner Arie ausgebuht. Diesmal bekam er Ovationen. Ich konnte an seiner gesanglichen Leistung zwischen damals und jetzt keinen Unterschied feststellen.

Maurus Pacher


     

     "Oper und Konzert", München, 9/1972     

Nationaltheater

Figaros Hochzeit

[...]

Dietrich Fischer-Dieskau zeichnete den Grafen Almaviva höchst prägnant als lebemännisch gewandten Charmeur, der zunächst mit lächelnder Gelassenheit und entwaffnender Selbstverständlichkeit auf amouröse Pirsch geht und dabei mit spielerischer Nonchalance gelegentlich seine gräfliche Würde und Autorität preisgibt, dann aber, als er immer wieder durch die Ränke seiner Untertanen und die erotischen Mißerfolge gereizt wird, von gefährlichem Ingrimm, brennendem Wunsch nach Rache und hartnäckigem "Justament-Trotz" erfüllt wird, die es unmöglich machen, ein "Glück zu entbehren", das ihm "ein Knecht entziehet." Wie Fischer-Dieskau die Regungen und Gedanken des empfindlich beleidigten Feudalherren und des an der Nase herumgeführten Galans stimmlich widerspiegelt, wie er sein Parlando in den Secco-Rezitativen bis in feinste Nuancen pointiert, wie er seine Kantilenen mit balsamischem Wohlklang und dramatischem Furor "auflädt", wie er herrischen Zorn und verführerisches Werben (um Erhörung und um Vergebung) profiliert, zwingt immer wieder zu rückhaltloser, dankbarer Bewunderung.

[...]

Claus R. Schuhmann

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