Zum Liederabend am 15. September 1972 in Berlin


     Berliner Zeitung, Berlin West, 18. September 1972     

D. F.-D. mit "Herbstgefühl"

Seit einiger Zeit stellt Dietrich Fischer-Dieskau seine Liederabende gern auf einen einzigen Komponisten. Nach Schubert (1970) und Mahler (1971) hat er sich jetzt Brahms zugewandt. Und wieder gilt, was ich schon nach seinem Mahler-Abend schrieb: Er müsste nicht Fischer-Dieskau sein, wenn er nicht auszöge, den unbekannten Brahms zu entdecken.

Die großen pathetischen Stücke fehlen. In dem nordischen Recken Brahms erspäht er den romantischen Lyriker, der von Träumen, Erinnerungen, Sehnsüchten, Entsagungen singt, sich in den Bereich des Zwielichtigen begibt und mehr als sonst in der Nähe Schumanns zu verweilen scheint. Fischer-Dieskau weckt alle diese Stimmungen bisweilen mit stiller Scheu und kostet sie doch bis auf den Grund aus, ohne die oft schmale Form des Liedes je zu sprengen.

Zu Höhepunkten wurden "Nachtwandler", "Meerfahrt", "Geheimnis", "Herbstgefühl".

In dem Lied "Wie bist du, meine Königin", einem der wenigen allgemein bekannten Stücke, hätte man allein an dem beständig variierten Wort "wonnevoll" einen umfassenden Begriff von seiner reichen künstlerischen Phantasie und der Nuancierungsfähigkeit seiner unverändert schönen Baritonstimme erhalten können.

Dem Sänger assistierte mit Feingefühl diesmal der Ungar Tamás Vasary.

K. W.

__________________________________

     

     Berliner Morgenpost, Berlin West, 17. September 1972     

Treue Gemeinde für Fischer-Dieskau

   

Dietrich Fischer-Dieskau lässt sich anscheinend nur noch mit der ganz großen Prominenz ein. In Salzburg gab er einen Liederabend mit Svjatoslav Richter am Klavier. Zu seinem Brahms-Abend in der Philharmonie im Rahmen der Festwochen hatte er den renommierten Tamás Vasary zum Partner erkoren. Das bedeutet doppelte Attraktivität; denn so werden nicht nur die Freunde des Gesanges, sondern auch die Anhänger der schwarzweißen Tastenkunst angelockt.

Solche Hilfe hat der Sänger freilich gar nicht nötig. Sein Publikum ist ihm unwandelbar treu, wofür er sich revanchiert, indem er mit Überraschungen spart. Sein Vortrag ist nach wie vor überlegt, durchgestaltet und voll hintergründiger Distanz.

Seine Technik beherrscht er so brillant, dass er auch da, wo der Ton nicht mehr so jugendlich strömen will, noch mit einem gewissen Glanz aufwarten kann. Wie gewohnt, bezaubert er mit stimmlichem Schmelz, und wenn er mitunter in höheren Lagen mal ausbleibt, gleicht die Erinnerung einiges aus.

Zwar kann auch die Erinnerung gefährlich werden: etwa, wenn man daran denkt, dass Fischer-Dieskau einmal zu den Sängern zählte, die an der Deutlichkeit des Textes nichts zu wünschen übrig ließen. Vielleicht ist das aber nicht so schwerwiegend, da ohnehin jeder Hörer den Text auf dem Schoß hat.

Immerhin gelang es ihm, einen ganzen Abend mit höchst einseitigem Programm darzubieten, ohne langweilig zu wirken.

Tamás Vasary dagegen musste seine Rolle missverstanden haben. Von der gespannten Sensibilität des Pianisten war diesmal kaum etwa zu spüren. Nahezu eingeschüchtert, opferte er die erforderliche Mitgestaltung einer falschen Rücksichtnahme.

-W-

__________________________________

    

    Berliner Tagesspiegel, 17. September 1972     

Lebendige Romantik

Dietrich Fischer-Dieskau begeisterte mit Brahms-Liedern

   

Dem musikalischen Fortschritt galt und gilt die subjektivistische Ausdrucks- und Gefühlssprache der deutschen Romantik seit langem schon als eine überwundene, zu überwindende Kunstäußerung des 19. Jahrhunderts. Arnold Schönberg hat zwar gesagt: "Die alte Romantik ist tot, lang lebe die neue!" Doch ist die junge Generation noch weitgehend beherrscht von antiromantischen Tendenzen.

Die Berliner Festwochen aber wurden in diesem Jahre mit einem Testament der Romantik, mit Schuberts C-Dur-Sinfonie, eröffnet, und zu einem Abend des romantischen Liedes drängte sich eine solche Menge auch jugendlicher Hörer, dass der Raum der Philharmonie nicht ausreichend schien. Dietrich Fischer-Dieskau sang Brahms, und der Name des großen Sängers bewährte wie immer seine Anziehungskraft. Ihm gelingt es als einzigem, die Diskrepanz zwischen der Weite des Auditoriums und der Intimität der Liedformen vergessen zu lassen. Seine geistige und poetische Spannkraft überbrückt alle räumlichen Distanzen und zwingt die Hörer zu andächtiger Sammlung. Er vermag von "Frühlingsabenddämmerung" (Candidus), von "lindem Rauschen in den Wipfeln" (Eichendorff) von "Kindheitsträumen" (Klaus Groth) zu singen und mit der unendlich reichen Skala seiner stimmlichen und sprachlichen Nuancen die Hörer gefangenzunehmen.

Das deutsche Lied, das "unglückliche Zwittergeschöpf aus Wort und Ton", erfährt durch diesen Künstler noch einmal seine Rechtfertigung. Mit dem "Nachtwandler" (Kalbeck) wurde schon die "vom Licht des Vollmonds trunkene, traumversunken über Abgrundtiefen gehende" Gestalt des romantischen Dichters beschworen. Was hier der Sänger an farblicher und subtiler dynamischer Abstufung einzusetzen vermochte, ist heute ohne Vergleich und wird, so muss man fürchten, nicht mehr wiederkehren. Da die allzu bekannten Lieder des Brahms-Repertoires ausgespart waren, konnte man die Kunst des Interpreten, seine meisterhafte Atemführung und Sprachgestaltung in seltener gehörten wie "Meerfahrt" (Heine) oder "Es träumte mir" (Daumer) und zum Schluss in einem übermütigen Gesang aus Goethes westöstlichem Diwan bewundern.

Tamas Vasary hatte als Klavierpartner wesentlichen Anteil am nachschöpferischen Geschehen. Wir kennen ihn seit langem als Virtuosen von Rang und hatten nun Gelegenheit, seine instrumentalen Qualitäten, die hohe Anschlags- und Legatokultur seines Spiels im Dienste romantischer Poesie zu erleben. Der Enthusiasmus der Hörer erreichte zum Schluss die bei Fischer-Dieskau gewohnten Höchstgrade. Lange Ovationen zwangen zur Zugabe von vier weiteren beliebten Brahms-Liedern.

Walther Kaempfer

__________________________________

      

    Die Welt, Ausgabe B, Berlin West, 18. September 1972     

Klippen der Kunstfertigkeit

Brahms-Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in der Philharmonie

   

Er könnte es sich leicht machen, doch er macht es sich schwer. Das hat stets Dietrich Fischer-Dieskau und seine Kunst ausgezeichnet, die er in der Philharmonie erneut bewies – diesmal mit einem einzig Brahms gewidmeten Programm, das noch dazu auf die landläufigen Herrlichkeiten des Repertoires weitgehend verzichtete und unbekanntere Lieder ins Licht hob, gerade solche, denen normalerweise nicht das vorbehaltlose, das uneingeschränkte Entzücken gilt. Aber es sind wohl gerade die schwarzen Schafe, denen Fischer-Dieskaus besondere Zuneigung gilt, und keiner wie er färbt sie kunstreicher ein in der Wolle.

Freilich – das kostet Mühe, und ganz mühelos ging es denn auch diesmal nicht zu. Etwas wie Irritation breitete sich vor allem über den ersten Teil des Konzerts, von der man kaum sagen kann, wer sie wem zureichte: Der Sänger seinem Begleiter Tamas Vasary, oder ob sie den umgekehrten Weg glitt.

Fischer-Dieskau liebt es seit einigen Jahren stärker denn je, sich in seinen Liederabenden namhaften Musikern wie Swjatoslaw Richter, Barenboim oder Sawallisch zu verbinden. Wenn er und das Publikum Glück haben, kommt es dabei zu einer künstlerisch ungewöhnlich eindringlichen Zusammenarbeit. Setzt dieses Glück jedoch aus, gewinnt man den – sicherlich falschen – Eindruck, es ginge vielleicht im Grunde doch nur darum, einen Gast-Star für die Fischer-Dieskau-Lied-Show zu gewinnen, um ihren Glanz dadurch noch mehr zu polieren.

Mit Vasary hatte der Sänger jedenfalls keinen glücklichen Griff getan. Er spielte neben ihm her mit seiner bewährten, jedoch zur Fadheit tendierenden Anschlagskultur, mit einer gewissen fahrigen, unentschlossenen Schönheit, die sich nicht einig zu werden schien, ob sie nun in den Dienst des Sängers treten oder ihm künstlerisch Widerpart leisten wollte.

Vasarys Spiel dämmerte nobel dahin. Es entfaltete keine konzentrierte, durchgehende Kraft. Es pickte sich aus Vor- und Nachspielen die Brosamen zusammen, aus denen sich sonst nur die Minderen der Professionals unter den Liedbegleitern ihren Erfolg backen.

Dabei ist Fischer-Dieskaus Kunst beinahe stärker als die anderer unsensiblerer Liedersänger auf ein kraftvolles Zuspiel angewiesen. Er, dem die Quellen des Gefühls (und der Stimme) nicht gerade im Überfluss springen, neigt seit langem zu einer finten- und finessenreichen Darstellung des Liedes, die sich wohl auf einen eminenten Kunstverstand, einen herrscherlichen Überblick über das Repertoire gründet, aber die Interpretation durch Über-Pointierung mitunter an den Rand des Kunstgewerblichen treibt.

Interpretation wird dann plötzlich Ausflucht. Ihr gilt es, den Weg zu verlegen in eine sublime Drückebergerei, die höchste Kunstfertigkeit mit einem Schlage blutleer erscheinen lässt, tot vor Vollkommenheit. Das aber ist die Aufgabe der Begleiter: dem Sänger die Fackel zuzureichen, sie ihm immer neu zu entzünden. Vasary leistete diese, ihm sicherlich unvertraute, ihn überfordernde Aufgabe nicht. Zwischen ihm, dem Sänger, den Liedern klaffte Distanz, die sich immer nur zeitweise schloss.

Sicherlich – es gab großartige Augenblicke, Momente runden Glücks: Das Lied: "Es träumte mir" etwa oder das schwellende, brandende "Verzagen". Auch wie Fischer-Dieskau allein schon die beiden ersten Zeilen von "Herbstgefühl" aus fahler, flacher Tongebung zu immer klingenderer Rundung führte, war durchaus ein Meisterstreich, der sich oft und oft wiederholte – am schönsten vielleicht in dem zugegebenen Lied "Sonntag", das, leicht hingesungen, eine stille Schlichtheit gewann, die entzückte. Am Ende stand denn auch der voraussehbare satte Erfolg, endloser Jubel, eine rückhaltlose Bestätigung, auf deren süßen Leim zu gehen freilich nicht jedermanns Sache ist – und Fischer-Dieskaus selbstkritischer Intelligenz sicher schon gar nicht.

Klaus Geitel


zurück zur Übersicht 1972
zurück zur Übersicht Kalendarium