Zum Konzert am 9. Oktober 1972 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 1972     

Bodengewinn für das moderne Lied

Fischer-Dieskau und Sawallisch im 1. Münchner Akademiekonzert

     

Das zeitgenössische Lied - Stiefkind der Avantgarde und Geißel für Sängerkehle und Bürgerohr - hat in München noch kaum einen so lauten und allgemeinen Erfolg gehabt wie bei der Erstaufführung von Aribert Reimanns Celan-Zyklus im Nationaltheater. Dieser Erfolg zählt, denn zum Akademiekonzert findet sich das sogenannte breite Publikum ein. Es war angenehm überrascht von der in der Tat bemerkenswerten Tatsache, daß ein junger Mann, statt irrwitzige Intervallsprünge, Intonationslotterie und sonstige Übungen für den Ruin einer Stimme zu verlangen, virtuos-sangliche, ausdrucksbefrachtete und vom Orchester nicht zermalmte Vokallinien schreibt, ohne an seiner modernen Haltung zweifeln zu lassen. Reimann weiß mit Stimmen umzugehen, ermißt, was klingt und was als Firlefanz danebengehen muß, versteht es, melodische Kurven anzulegen, die den Stimmungsgehalt eines Gedichts in sich fassen, und unterläßt vor allem das Grundübel vieler moderner Vokalmusik, die Stimme unter Orchestermassen zu ersticken. Darüber hinaus ist er auf Dietrich Fischer-Dieskau eingeschworen, kennt die Lagen, in denen diese Baritonstimme besonders ausdrucksvoll anspricht, vertraut einer schier unvergleichlichen Behandlung der Vokale - "Fadensonnen" im letzten Lied - und nutzt die sprichwörtliche Intonationsgenauigkeit seines Interpreten zu der Parforcetour, den Zyklus a capella in heiklen Tonsprüngen beginnen zu lassen.

Aribert Reimanns sechsteiliger Celan-Zyklus, komponiert für die Nürnberger Feiern zum Dürer-Jahr, ist ein Wurf, ein Bestseller der zeitgenössischen Liedmusik. Die Übersensibilität und das Verlorenheitsgefühl Paul Celans werden in Musik umgesetzt; dem etwas preziösen Expressionismus der Verse entsprechen die fahlen Farben des kleinen Orchesters ohne Geigen und der befremdende Reiz der Baßflöte. Durch gezielte Schlagzeugdämonie gibt Reimann zu verstehen, daß Celans Nervenpoesie letzten Endes Reflex eines Kriegs- und Emigrationsschicksals ist.

Diesen Übergang vom Privaten zum Allgemeinen, von der "Literatur" zum Ernst verdeutlichten Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch. So unnachahmlich virtuos Fischer-Dieskaus Interpretation in Stimm- und Wortbehandlung ist, hier fand sie ihre eigentliche Legitimation. Diese letzte Steigerung des Reimann-Espressivo ermöglichte der Partner Sawallisch. Mit dem glänzend disponierten Staatsorchester realisierte er eine Einstudierung, die nicht nur die Töne, sondern auch den Sinn der Partitur traf und das Publikum geradezu hypnotisierte. Der Komponist hatte die Genugtuung, nicht nur vom Publikum, sondern auch von dem ganzen Interpretenkollektiv verstanden worden zu sein.

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Karl Schumann

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     Münchner Merkur, 11. Oktober 1972     

    

Sawallisch startet die Akademie-Saison

Nationaltheater: Fischer-Dieskau singt den Reimann-Zyklus

   

Am Anfang des ersten Akademie-Konzerts im Nationaltheater stand Webern. Wolfgang Sawallisch weiß seine Programme interessant und informativ zu getalten. Die Passacaglia, Anton Weberns op. 1 aus dem Jahr 1908, verdient Beachtung nicht nur als Fortsetzung des späteren Mahler, sondern auch als Beispiel eines Werkes auf der Grundlage der Tonalität kurz vor deren Auflösung.

Eine ganze Komponisten-Generation ist posthum zu Entdeckern und Schülern Weberns geworden. Auch Aribert Reimann, der heute 36jährige Berliner, blieb nicht unbeeinflußt. Die Münchner Erstaufführung seines Zyklus für Bariton und Orchester dokumentierte aber erneut die Stärke seiner Eigenpersönlichkeit als Komponist, als Schöpfer einer hervorragend ausgehörten Partitur: nur tiefe Streicher, oft zu dichten Klangflächen verwoben, kompaktes Blech, viel Schlagzeug mit virtuosen Pauken, zwei Harfen und ein Flötensatz vom Piccolo bis zur Baßflöte; eine Vokalpartie, die ihrem Widmungsträger und Interpreten Dietrich Fischer-Dieskau alle Möglichkeiten gibt, seine gesanglichen Fähigkeiten und seine Ausdrucksskala zur Entfaltung zu bringen. Diese Musik ist eine adäquate Ergänzung zu den Worten Paul Celans aus der "Atemwende" auf anderer Ebene, keine Illustration.

In den starken Beifall für diesen Zyklus, der den bedeutendsten Orchesterliedern seit Mahler zuzurechnen ist, war auch der Komponist einbezogen.

Abschließend nahmen sich Sawallisch und das Staatsorchester liebevoll der dritten Symphonie von Mendelssohn an, doch bleiben die ohnedies sehr deutsch-romantisch empfundenen schottischen Impressionen ein wenig farblos und unbestimmt.

Karl Robert Brachtel

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     Abendzeitung, München, 12. Oktober 1972     

   

Reimann-Erstaufführung

Viel zu kultiviert

    

1. Konzert der Musikalischen Akademie mit Dietrich Fischer-Dieskau. Werke von Webern, Mendelssohn Bartholdy und Aribert Reimann wurden mit viel Beifall quittiert. Wolfgang Sawallisch leitete das Bayerische Staatsorchester (Nationaltheater).

Im Mittelpunkt der Interessen stand Aribert Reimanns Erstaufführung "Zyklus für Bariton und Orchester". Eine grauschwarze musikalische Kraterlandschaft, voll hohler Dämonie, kompositorisch linientreu den abstrakten Texten von Paul Celan. Rauhhaarige Streicherfetzen, berstende Trompeten und aufdringliche Trommeln, und unversehens ragt eine heile Stimme empor.

Und darin lag ein etwas belastender Widerspruch: Fischer-Dieskau sang seinen rätselhaften Part mit innig durchleuchtetem Arioso und gepflegter Artikulation, doch viel zu kultiviert. Denn: wenn Instrumente aus ihren Wurzeln gehoben werden, sollte man auch den Gesang von seinem Schönestimme-Charakter entkernen. Sonst bleibt es eben eine konzertante Oper mit surrealistischer Hintergrundtonmalerei.

Veszelits

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     Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger,   
     13. Oktober 1972
     

   

Akademie mit Musica viva

Sawallisch spielt Webern und Reimann

  

Wolfgang Sawallisch läßt es sich auch im neuen Konzertspieljahr angelegen sein, den lange als "zu konservativ" bemäkelten Programmen der Musikalischen Akademie durch Aufführungen zeitgenössischer Kompositionen ein interessanteres Gepräge zu geben. Standen im ersten Jahr seiner Übernahme dieser Konzertreihe die Namen Bartok, Strawinsky, Weill, Prokofieff, Hindemith und Hartmann in den Vortragsfolgen, so diesmal Werke von Bloch, Blacher, Schostakowitsch, Petrassi und - im jetzigen 2. Konzert - von Anton Webern und Aribert Reimann. Man darf annehmen, daß das Publikum, zumindest das jüngere, mit diesem "Aufbruch" einverstanden ist. Von Weberns "Passacaglia" op. 1 (komponiert 1908), einem zwar kühn entwickelten und zu mächtigen espressiven Steigerungen eigener Art ausgreifenden, jedoch durchaus tonalen d-Moll-Stück, konnten jedoch auch die Älteren, "Konservativen" schwerlich befremdet sein. Mehr dagegen wohl von Reimanns elegischem "Zyklus für Bariton und Orchester nach (6) Gedichten von Paul Celan", einem Werk, das - wie andere, frühere dieses originellen Komponisten - noch besser in ein Programm der Musica viva gepaßt hätte.

Was hier dem Zuhörer Schwierigkeiten macht, ist indes nicht die musikalische Gestaltung, sondern die Sinn-Dunkelheit der Texte. Fischer-Dieskau, dem der Zyklus zugeeignet ist, sang die kaum enträtselbaren Strophen allerdings mit einer Intensität und Teilnahme, als sei ihm ihr Aussagesinn nicht verschlossen. Anrührender dennoch das den etwa in Art eines Recitativo accompagnato behandelten Gesang umgebende instrumentale Geschehen: die Folgen von apart kontrastierten, aus Wechsel und Mischung von Flötenstimmen, tiefen Streicherklängen, Bläser- und Schlagwerk-Akzenten gewonnenen Klangbildern, denen eine bewegende, größte Zartheit wie ausbrechende Heftigkeit einschließende Expressionskraft innewohnt. Nach dieser mit Beifall - vor allem für den Sänger, aber auch für den Dirigenten und den Komponisten - aufgenommenen Erstaufführung lenkte Sawallisch mit einer klangschönen und lebensvollen Wiedergabe der "Schottischen Symphonie" von Mendelssohn in altvertraute Bahnen zurück.

aw


    

     "Oper und Konzert", München, 12/1972     

    

Nationaltheater

1. Akademiekonzert

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Wenn nun ein höchst attraktiver Starsänger vom Rang und Namen eines Dietrich Fischer-Dieskau aufs Podium kommt, dann ist ihm begeisterter Begrüßungsapplaus sicher, ganz egal, was er dem pp Publikum anbieten wird. Ob Aribert Reimanns "Zyklus für Bariton und Orchester nach Gedichten von Paul Celan" verstanden wurde und ob er gefiel, spielt keine Rolle; der Name des Solisten bürgt für Qualität. Wo selbst Germanisten Mühe haben, Gedichte von Celan philologisch zu interpretieren, da tut der gehobene Musikkonsument so, als gäbe es gar keine Probleme des inhaltsbezogenen Verständnisses. Der Zugang zum musikalischen Bereich dieses Zyklus ist ja geebnet und markiert durch einen Wegweiser aus der Werkstatt des Komponisten: Einführung und Text im Programm - also kann nichts schiefgehen. Alles ist maßgeschneidert: "Zyklus für Fischer-Dieskau geschrieben", der für jegliche Aufführung das Monopol haben soll. Hätte man nach dieser äußerst bemerkenswerten Erstaufführung auf höchstem künstlerischem Niveau eine Probe aufs Exempel gemacht und eine Meinungsumfrage zum gehörten Werk angestellt, dann wären die Befragten in eine etwas peinliche Situation geraten, wie etwa jener Schüler, der mangels Wortschatz und Grammatik seinen Sophokles nicht übersetzen kann. Celan hin, Reimann her - der Erfolg galt dem intelligentesten Sänger und Dirigenten, den man sich für diese sechs Gesänge nur denken kann. Der etwas linkisch wirkende Komponist wurde rechtens von seinem Künstler-Mäzen in den allgemeinen Beifall einbezogen. (Dabei tauchte eine Gedankenparallele auf: der kleine Franz Schubert neben dem großen Michael Vogl.) Man hätte das mit ernstem musikalischen Gewissen einstudierte und dargebotene Werk - möglichst mit Partitur - ein zweites oder drittes Mal hören müssen, um dieses Buch mit sieben Siegeln leichter entziffern und das Werk entsprechend würdigen zu können. - F. Mendelssohn Bartholdys 3. Symphonie a-Moll, op. 56, die sogenannte "Schottische", führte in eine heile Welt zurück. Wie sehr Mendelssohn Wolfgang Sawallisch am Herzen liegt, beweist rein äußerlich die Schallplatteneinspielung aller fünf großen Symphonien dieses Erzromantikers mit dem New Philharmonia Orchestra unter seiner Leitung. [...]

Das Bayerische Staatsorchester erwies sich erneut auch im symphonischen Bereich als äußerst kompetent und erspielte sich und seinem Generalmusikdirektor einen großartigen Erfolg.

Hans Busch

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