Zum Liederabend am 2. März 1973 in Hannover


     Hannoversche Allgemeine, 5. März 1973     

Ein Sänger setzt Maßstäbe

Dietrich Fischer-Dieskaus Brahmsabend im Kuppelsaal

     

Dietrich Fischer-Dieskau, der zusammen mit dem Pianisten Günther Weißenborn im Rahmen des Pro-Musica-Zyklus im Kuppelsaal der Stadthalle Hannover vor sehr vielen Zuhörern einen Liederabend gab, liebt es, seine Konzerte unter einen kompositorischen Gesichtspunkt zu stellen. Man hört ihn heute fast nur noch mit Liederabenden, die er allein Schubert, Hugo Wolf, Schumann oder Liedern der "Neuen Wiener Schule" widmet. Gerade in solcher Beschränkung zeigt dieser geistige, wissende Sänger, der im Musikleben Maßstäbe setzt, immer wieder seine Meisterschaft.

Diesmal spezialisierte er sich auf Brahms und zwar im wesentlichen auf unbekanntere Lieder. Wobei dann gerade das herrlich gesungene "Ständchen" und das verfeinert gegebene "Wie bist du, meine Königin" um so mehr als willkommene Rückkehr in den volkstümlichen Brahms empfunden wurden. Bei einem so vielseitigen Künstler wie Fischer-Dieskau, der die ganze Liedliteratur in Kopf und Herzen hat, könnte die Beschränkung auf Brahms eine Einengung seiner schier unerschöpflichen Möglichkeiten bedeuten. Denn wer wollte behaupten, dass alle diese vier Gruppen von 18 Liedern, die Fischer-Dieskau aufs Programm gesetzt hatte, zu den stärksten Seiten des Brahmsschen Schaffens gehören?

Der Künstler besitzt jedoch für die Wiedergabe dieser Stücke so viel untrüglichen Geschmack, so viel subtiles Gefühl, so viel stimmliche Ökonomie, dass der Personalstil von Brahms auch dort zum Erlebnis wird, wo er sich nicht gerade auf der Höhe seiner besten Möglichkeiten bewegt. Fischer-Dieskau geht den volksliedhaften Quellen bei Brahms eindringlich auf den Grund. Wenn er sich erst einmal eingesungen und die übliche Anlaufzeit des Sichgewöhnens an den für das Lied viel zu großen Saal hinter sich gebracht hat, erfasst er die schön geschwungenen, ausdrucksvollen, sorgfältig dem Text nachspürenden melodischen Linien mit ebenso viel Kultur wie Natürlichkeit.

Man hört dem Bariton und seinem herzhaft-musikantisch mitgestaltenden Klavierpartner Weißenborn, der den Gesang mit großem Ton, mit echt Brahmsschem Ausdruck umkleidet, um der Akustik des Riesensaals so weit wie möglich gerecht zu werden, mit Interesse, ja, Bewunderung, zuweilen aber auch mit einer gewissen kritischen Nachdenklichkeit zu. Denn Fischer-Dieskaus Vortrag, der sich ganz aus der mezza voce (halben Stimme) entfaltet, deckt nicht nur Grenzen von Brahms’ Liedkunst auf, er lässt auch gewisse Nachteile einer Programmgestaltung nicht vergessen, die in der Ausschließlichkeit und ausdrucksmäßigen Einseitigkeit der nur diesem Komponisten gewidmeten Liedfolge liegen.

Was dieser vorwiegend lyrisch-elegischen Vortragsfolge fehlte, war der gewichtige Kontrapunkt, der einen Kontrast oder wenigstens mehr Abwechslung geschaffen hätte. Man könnte sich denken, dass die "Vier ernsten Gesänge" von Brahms, die gerade Fischer-Dieskau so einzigartig zu gestalten weiß, den fehlenden Gegensatz hätten heraufbeschwören und die richtige "dramatische" Variante bilden können. Aber was soll ein solch vermessenes "Wenn" und "Aber", Fischer-Dieskau kann singen, was er will, er fesselt sein Publikum immer. Er ist ein großer Interpret, der über begnadeten Schöngesang hinaus zu den geistigen Grundlagen seiner Kunst vorzustoßen und auch an einem solchen Abend eine Fülle von Anregungen zu vermitteln weiß. Fischer-Dieskau hat nun einmal dieses Brahms-Programm, um das sich streiten lässt, gewählt, und man muss sich damit abfinden. Seine riesige Zuhörergemeinde in Hannover ist ihm jedenfalls in den Grundton seines Abends, der mehrere Zugaben herausforderte, wie immer begeistert gefolgt.

Erich Limmert

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     Neue Hannoversche Presse, hp Rundschau, 5. März 1973

Meister des Liedgesangs

   

Pro-Musica-Liederabend im Kuppelsaal der Stadthalle. Dietrich Fischer-Dieskau sang 18 Lieder von Brahms. Am Flügel: Günther Weißenborn.

Sich über die Liedkunst des begnadeten Sängers Dietrich Fischer-Dieskau zu verbreiten hieße Eulen nach Athen tragen. Seine hohe Phrasierungskunst, gestalterische Souveränität, vollkommene Beherrschung der Dynamik und unübertreffliche Gabe der Artikulation werden seit Jahren besungen. Fischer-Dieskaus Streifzug durch die Welt des Brahmsschen Kunstliedes ist ganz geprägt durch den feinen Geschmack in der Behandlung des Naiven. Brahms hat klar geformte Gebilde (schwankender Qualität) geschaffen, die nie zu sehr ins Dramatische überwechseln, sondern eigentlich immer nur das Liedhafte betonen. Fischer-Dieskau meistert die Klippen des Allzuniedlichen, Schwärmerischen der Texte durch die Geschmeidigkeit seines unverwechselbaren Timbres und eine der inneren Konzentration entwachsenden Einfachheit, die seine Größe bestimmt.

Allein wie er im "Geheimnis" das Wort "Liebe" gestaltet, rechtfertigt das Rezital – der Start seiner Deutschlandtournee 1973 – einen Meisterabend zu nennen. Die sensible, mitschöpferische Begleitkunst Günther Weißenborns hat daran ihren gewichtigen Anteil.

(Autor unbekannt)

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