Zum Liederabend am 10.3.1973 in Hamburg


    

     Hamburger Abendblatt, 12. März 1973     

Dem unbekannten Brahms auf der Spur

Liederabend mit Fischer-Dieskau

     

In seinem letzten Pro-Arte-Konzert in der Großen Musikhalle war Dietrich Fischer-Dieskau dem unbekannten Johannes Brahms auf der Spur. Gewiss fanden sich mit Klaus Groths "Regenlied" oder Daumers "Wie bist du, meine Königin" auch häufiger gesungene Lieder im Programm. In der Mehrzahl jedoch waren Raritäten wie Goethes mit sprühendem Buffowitz gesungenes "Unüberwindlich", Franz Kuglers "Biedermeier-Serenade" à la Spitzweg, Adolf Friedrich von Schacks "Abenddämmerung" oder die frühe Eichendorff-Vertonung "Lindes Rauschen in den Wipfeln". Hier wie dort bewährte sich einmal mehr Fischer-Dieskaus nicht genug zu rühmende Kunst, mit überlegen eingesetzten Stimmmitteln und untrüglichem Geschmack das Geheimnis jeder Liedminiatur zu entschlüsseln. Eine Frage warf lediglich die Auswahl auf, bei der eigentliche "Entdeckungen" ausblieben.

Ein Wort noch zur Praktik der Zugaben: Tut sich nicht ein eklatanter Widerspruch auf, wenn das Publikum beim eigentlichen, von vornherein kurz bemessenen Programm zu äußerster Disziplin (selbst beim Umblättern der Programmheft-Seiten) angehalten wird, wenn dann aber eine Zugabe nach der anderen durch stürmischen Applaus ertrotzt werden muss?

Fischer-Dieskaus Begleiter war diesmal Günther Weißenborn, ein insgesamt vorzüglicher Pianist, der es jedoch an sensibler Gestaltungskraft, an atmosphärischer Einstimmung mit dem Sänger nicht mit Wolfgang Sawallisch, Jörg Demus, Karl Engel oder Gerald Moore aufnehmen kann.

C. W.

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     Die Welt, Hamburg, 12. März 1973     

Das Publikum saß sogar auf dem Podium

Fischer-Dieskau sang Brahms

   

Dietrich Fischer-Dieskau ist einer der wenigen Sänger, die ihr Publikum immer noch sogar durch das allmählich aussterbende Genre von Liederabenden fesseln und begeistern. Das beruht nicht nur auf der hohen Qualität, dem erlesenen Timbre seines Baritons und dessen kunstvoller, reich differenzierter Entfaltung, sondern fast noch mehr auf der Ausdruckskraft seines Vortrags.

So vermochte der Künstler selbst den relativ belanglosen Versen wenig bekannter Brahms-Lieder, denen er jetzt das Sonderkonzert des "Pro-Arte"-Zyklus in der bis auf einige Podiumsplätze ausverkauften Musikhalle widmete, durch die nahezu dramatische Beredtheit seiner Textausdeutung, vor allem aber durch das lyrisch beseelte, meisterhafte Legato seiner Stimmführung fast den Rang poetischer, jedenfalls vom Komponisten stimmungsvoll inspirierter Visionen zu geben: am schönsten wohl dem "Nachtwandler" von Max Kalbeck (aus op. 86) und der "Abenddämmerung" von A.F. von Schack (aus op. 49).

Stimmlich war Fischer-Dieskau an diesem Abend offenbar wohl nicht ganz in seiner oft und mit Recht gerühmten Hochform – zumal im zweiten Teil des Programms. Zwischen dem lyrischen und dem mehr "dramatischen" Ausdruck gab es zuweilen etwas schroffe Übergänge, selbst dem vielbewunderten Pianissimo fehlte es mitunter an der charakteristischen Farbe und Leuchtkraft. Aber die Kunst des ungemein sensiblen, künstlerisch bis ins Detail der beredten Nachspiele mitgestaltenden Partners Günther Weissenborn am Flügel überspielte souverän solche kleinen Bedenklichkeiten, so daß der große Erfolg des Abends gesichert war.

Heinz Joachim

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