Zum Liederabend am 30. März 1971 in Augsburg


     Augsburger Allgemeine,  3. April 1973     

Das Metaphysische bei Brahms

Zu einem Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau

     

Es wird doch wohl niemand geben, der daran zweifeln möchte, dass sich ein Liederabend von Fischer-Dieskau nicht mit höchstem geistigem Anspruch verbindet. Dieser Anspruch konzentrierte sich beim selbstverständlich ausverkauften Konzert in der Augsburger Kongresshalle auf Johannes Brahms. Spielt der Zufall mit oder tiefere Bedeutung – Fischer-Dieskau, Brahms und Augsburg scheinen irgendwie zusammenzugehören. Man erinnert sich an das erste, noch ganz und gar nicht spektakuläre, wohl aber musikalisch bereits hochbedeutsame Auftreten des Künstlers vor etlichen Jahren: Er sang die Baritonpartie im Deutschen Requiem in einer Aufführung des Oratorienvereins unter Karl Gößler im Ludwigsbau. Seitdem haben beide sich verändert, die Halle äußerlich, der Künstler innerlich.

Einen ganzen Abend Brahms zu singen, darin liegt etwas Asketisches. Es erfordert das Ausloten von Naturstimmungen unterschiedlichster Art, vom geheimnisvollen Frühlingsahnen ("O Frühlings-Abenddämmerung ...") bis zum kosmischen Schauer ("Wie wenn im frost’gen Windhauch ..."), es gebietet ein seismographisch genaues Erfassen differenziertester zwischenmenschlicher Gefühle, wie sie der Romantiker Brahms auch in zweitrangigen Versen eines Adolf Friedrich von Schack, August von Platen, Georg Friedrich Daumer, Karl von Lemcke oder Klaus Groth u.a. aufzuspüren und musikalisch zu überhöhen wusste. Vor allem aber huldigt dem nordischen Barden Brahms mit der großen Liebe zu Schubert im Herzen nur, wer die vielfältig aufgerufenen Emotionen gleich ihm in strenge Form zu binden weiß.

Darin nun ist Fischer-Dieskau der vollendete Meister. Das perfekte Maß, er findet es für jedes von ihm gewählte Lied, ob es um einen Hauch von Nostalgie geht wie im "Nachtwandler", um den hymnischen Aufschwung in "Wie bist du, meine Königin" oder um die derbe Ironie in "Unüberwindlich", Goethes pathetischem Lobpreis des Weines. Den Gipfel Brahmsscher Liedkunst offeriert Fischer-Dieskau dann dort, wo sein metaphysisches Suchen nach dem letztgültigen Gehalt dieser Gesänge in höchste Einfachheit mündet. "Es träumte mir, ich sei dir teuer" wird hier unvergesslich in Erinnerung bleiben.

Höchste Einfachheit, das wäre auch das äußere Signet dieses Sängers, der seine Stimme zum vollkommenen Instrument des Ausdrucks macht, eine Stimme, an der das Kostbarste nicht ein unwirklich schönes Timbre, sondern die makellose Beherrschung aller technischen Probleme und die Biegsamkeit im Dienste vergeistigter Liedgestaltung ist.

Nicht Selbstdarstellung regiert, sondern Werktreue. Günther Weißenborn, ein Begleiter von unangefochtener pianistischer Qualität, ist wie Dieskau in der nobelsten Weise demütiger Diener an Brahms. Der Rest: Ovationen eines Publikums, das zur Askese mitgezwungen und durch ein Bouquet von Zugaben freigebig entlohnt wird.

Dr. Thea Lethmair

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