Zum Liederabend am 20. August 1974 in Salzburg


     Kurier, Wien,   22. August 1974     

Salzburg: Dietrich Fischer-Dieskau

     Lieder ohne Kostüm

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Im Grunde ist es ein kleines Wunder, daß dieser Mann seinen Weg zum breiten Publikum gefunden hat, denn Dietrich Fischer-Dieskau, 48, ist der musizierende Intellektuelle schlechthin – und er zeigt es auch.

Aber man muß seinen Weg nur wirklich unbeirrbar gehen, um am Ende auch die Zweifler zu überzeugen. Dietrich Fischer-Dieskau, Inbegriff des deutschen Kammersängers, hat das über ein Vierteljahrhundert hinweg getan, und das Ergebnis ist eine schon jetzt interpretationsgeschichtliche Leistung; niemand hat mehr dazu beigetragen, eine scheinbar so unzeitgemäße Kunst wie den Liedgesang neu zu popularisieren, und doppelt bewunderungswürdig wird diese Leistung, weil Fischer-Dieskau es so geradlinig getan hat, also unter Verzicht auf jede Anbiederung.

Natürlich hat es im letzten Jahrzehnt auch für ihn immer wieder Krisen gegeben: Krisen, in denen ein Verfall der stimmlichen Mittel gleichsam kompensiert zu werden schien durch ein Mehr an gestalterischer Deutlichkeit, und das ging manchmal so weit, daß man sich Fischer-Dieskau kaum anders vorstellen konnte als mit lehrhaft erhobenem Zeigefinger. Aber er hat schließlich alle diese Krisen zu meistern gewußt, und zwar so gut, daß es weiter nicht verwunderte, wenn er die großen Säle dereinst noch als Sechzigjähriger füllte.

Im Augenblick ist Dietrich Fischer-Dieskau, den Christoph Eschenbach in Salzburg (mit kleinen Einschränkungen) sehr gut begleitet hat, in einer ausgesprochen reifen, gelösten Phase. Gewiß, im Forte klingt sein Bariton nicht mehr so voll und ausgewogen wie ehedem, und gewisse Abnützungserscheinungen sind unverkennbar.

Aber im Zentrum, einer breiten, intakten, warmen Mittellage, spielt Fischer-Dieskau, zumal im Leisen und Verhaltenen, eine Kunst der sängerischen Nuancierung und Pointierung aus, die Schumann zum Erlebnis macht. Auch dann, wenn man einen ganzen, ausschließlich Heine-Liedern (darunter, als Schwerpunkte, der Liederkreis, op. 24, und die Dichterliebe, op. 48) gewidmeten Abend fast zu einförmig findet.

Über die darstellerische Intelligenz und Sorgfalt Fischer-Dieskaus ließen sich Bände füllen. Er hat jedes Detail und jede Nuance durchdacht, aber den Blick für den Zusammenhang dabei nicht verloren. Fischer-Dieskau personifiziert eine Werkvertrautheit, die nur lebenslanger Umgang mit sich bringt. Er schlüpft in kein Kostüm, wenn er Lieder singt. Er lebt, denkt, fühlt in diesen Liedern, und das macht seinen Vortrag so selbstverständlich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich singend mitzuteilen.

Gerhard Brunner

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     Salzburger Nachrichten, 22. August 1974     

Demonstration restloser Kompetenz

Fischer-Dieskau sang Schumann-Lieder im Großen Haus –
Am Klavier: Christoph Eschenbach

    

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau in Salzburg das Podium betritt, um Lieder zu singen, wird eine liebgewordene Übung stets aufs neue zum herausragenden künstlerischen Ereignis. Der schon als junger Sänger die Züge des bewußten Interpreten profilierte, gab im Sommer 1956 seinen ersten Salzburger Liederabend, und Montag, im Großen Festspielhaus, bereits seinen siebzehnten. Ein Rekord, der den Rang unterstreicht, der diesem Liedgestalter zukommt. War in früheren Jahren häufig Gerald Moore sein Salzburger Gefährte, so geleitete diesmal Christoph Eschenbach den Sänger ganz vorzüglich durch ein zur Gänze Robert Schumann gewidmetes Programm.

Schon die ausschließliche Konzentration auf einen Komponisten, ja auf eine einzige schöpferische Beziehung, weil nur Lieder nach Texten von Heinrich Heine gewählt wurden, illustriert hohen künstlerischen Anspruch: Systematik um der stilistischen Einheitlichkeit willen.

Vor den beiden kompletten Zyklen, die den Abend im wesentlichen ausmachten, erklangen zur Einstimmung drei ausgewählte Lieder, deren drittes, "Mein Wagen rollet langsam", eine typische Spezies des Interpreten entblößte, das von Überspitzung nicht völlig ungefährdete Vermögen einer bildhaften, lautmalerischen Diktion, die allerdings die Vorstellungskraft des Zuhörers in hohem Maße zum Miterleben beflügelt.

Die wesentlichste Maxime des Liedgesanges, jene Bindung zwischen Musik und poetischer Aussage nachzuvollziehen, die der Komponist hergestellt hat, bildet für Fischer-Dieskau nur die Basis für all die Verfeinerung, deren er sich wie spielerisch fähig erweist. Es ist vielfach ein Singen in extremis, aber eben nicht vergröbernd, wenn er etwa die Schlußverse von "Es treibt mich hin" mit der knatternden Metrik einer Maschinengewehrgarbe durchrast, mehr suggestiv wirksam als textverständlich, oder "Ich wandelte unter Bäumen" unendlich ruhig in das Ebenmaß schlichtester Töne faßt. Ein anderes Stück dieses "Liederkreises op. 24", "Schöne Wiege meiner Leiden", wurde völlig gelöst, mit Eleganz, in seiner reizvoll fließenden Melodie belebt, quasi mit hellem Spürsinn nach seiner schönsten Seite hin dem Hörer geöffnet. "Mit Myrten und Rosen" ließ hinter verinnerlichtem Ausdruck kein Gran von Künstlichkeit fühlbar bleiben.

Dank außerordentlicher Stimmbeherrschung und Finesse braucht sich die fachlich-stilistische Kompetenz Fischer-Dieskaus heute nur in zweiter Linie auf die pure Qualität des nicht mehr taufrischen Materials zu stützen. Der Künstler erzielt in allen Lagen eine schmiegsame Mezzavoce, jongliert schwerelos mit seinem schöngefärbten, das Falsett dankenswert meidenden Piano und ist geradezu stufenlos regulierbarer Dynamik fähig. Im Wechselspiel dieser Mittel, dienstbar gemacht der intellektorientierten Auslotung des Textgehaltes, erstehen jene Resultate von Höchstrang, deren einige hier schon skizziert wurden. Da scheint es ohne Bedeutung, ob das Timbre auch einmal brüchig anmutet, ob mehrfach Unreinheiten mitschwingen, ob exponierte Höhen etwas gewaltsam erreicht werden oder ob man der mit den Lagen wechselnden Klangfarbe ein wenig mehr Balance wünschen möchte. Das sind eher Kriterien des Opernfaches.

Außerdem setzt ja Fischer-Dieskau Klangfärbungen sehr bewußt ein, als malerische Vertiefung und Verdeutlichung spezifischer Stimmungsgehalte. Besonders kennzeichnend die offene, betont lockere Tonbildung, die lyrische, romantische Momente absichtsvoll in Wohlklang rahmt: Ein Ausdrucksmittel, das in der vollständig dargebotenen "Dichterliebe", op. 48, vielfache Bewährung fand, ebenso wie das Raffinement im präzisen Eingehen auf tänzerische Rhythmen ("Das ist ein Flöten und Geigen", "Ein Jüngling liebt ein Mädchen"). Viel steigernde Wirkung wurde aus Temporückungen - auf engstem Raum sozusagen – und aus minimalen Verzögerungen (Vorhalten) geschöpft, die dem Notentext nicht widersprechen, aber nur von einem derart souveränen Kenner und Könner zu handhaben sind. Gerade in solchen Momenten bewährte sich die echte Harmonie zwischen dem Sänger und dem feinfühligen Christoph Eschenbach am Flügel.

Fischer-Dieskaus unleugbarer Spürsinn, Gegensätze (nicht nur im Tempo) zu nützen, erscheint koordiniert mit dem Gefühl für die aus dem Werk selbst erwachsenden, zu respektierenden Grenzen. An zwei aufeinanderfolgenden Liedern wurde das deutlich. "Ich will meine Seele tauchen" wurde piano kunstvoll auf Linie gehalten, so daß schon der Übergang in die Mezzavoce dazu gleich einem Forte-Akzent kontrastierte; und so konnte gleich darauf gewichtiges Pathos ("Im Rhein, im heiligen Strome") neuerlich eine Steigerung und einen belebenden Gegensatz markieren.

Virtuose Anwendung derart diffiziler Mittel, die auch tiefe Erschütterung Platz greifen ließen ("Ich hab’ im Traum geweinet"), machen es schwierig, die Grenze zum Manierismus zu fixieren. Für mein Gefühl hat Fischer-Dieskau an diesem Abend den Gefahrenbereich weitestgehend meiden können. Es sei denn, man überbewertet den wohlberechneten mimischen Ausdruck, weil man dem glänzenden Perfektionisten nicht einmal ein Quentchen Selbstgefälligkeit zubilligen möchte.

Selbstredend beendeten erst einige Zugaben die umjubelte, hochkarätige Demonstration restloser Kompetenz. Das mag auch jene entschädigt haben, die zu spät gekommen waren, weil Programmprospekt und Almanach über die Beginnzeit falsch informierten.

Hermann Schönegger

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     Schwäbische Zeitung, Leutkirch,   22. August 1974     

Intimer Schumann vor 24OO Hörern

Dietrich Fischer-Dieskau und Christoph Eschenbach in Salzburg

   

Schon zum dritten Mal sang Dietrich Fischer-Dieskau bei den Salzburger Festspielen einen reinen Schumann-Liederabend. Der Andrang zu seinen Auftritten ist so groß, daß nicht einmal das Große Festspielhaus mit nahezu 2400 Plätzen ausreichte, alle Kartenwünsche zu befriedigen. Der Riesenraum widerspricht eigentlich der Intimität des romantischen Liedes. Doch Dietrich Fischer-Dieskaus souveräne Kunst läßt jeden Raum vergessen.

Selbst die Volkslied-Schlichtheit von Schumanns Heine-Liedern, aus denen der Bariton in diesem Jahr das Programm zusammenstellte, hört sich in dem Supersaal nicht verloren an. Das bewirkt die Kraft der Konzentration. Dietrich Fischer-Dieskau hat als Interpret eine starke Wandlung vollzogen. Er hat sich für jede Nuance einen eigenen Stimmausdruck erarbeitet (was ihm oft als Maniriertheit vorgeworfen wurde) und ist in den letzten Jahren wieder äußerst sparsam in den Mitteln geworden. Die Heine-Lieder singt dieser Interpret mit seinem phänomenalen Kunstverstand sozusagen mit der raffiniertesten Schlichtheit – und trifft damit den Stil des romantischen Dichters genau.

Fahl und weich färbt er das Lied "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht", um das Verwelken der "Blaublümelein" nachzumalen, aber ohne den Fluß des einfachen Melos zu vernachlässigen. Zischelnd schildert er die Geister ("sie huschen und schneiden Gesichter") in "Mein Wagen rollet langsam", doch nur andeutend, ohne billig zu dramatisieren. Selbst ein Kontrast wie das samtene "Nur ein stilles Leben führen wollt ich, wo dein Odem wohnt" und das harte "Doch du drängst mich von hinnen" ("Schöne Wiege meiner Leiden"), überhaupt der Gegensatz der Legato- und Stakkatolieder im frühen Liederkreis op. 24 ist nie forciert.

Wie der Sänger auch die letzten Schmerzen zu durchleiden versteht, zeigten in diesem Zyklus "Lieb Liebchen, leg’s Händchen aufs Herze mein" mit der fast tonlosen Angst vor dem Tod und in dem Zyklus "Dichterliebe" op. 48 das "Ich hab im Traum geweinet". Für ihn ist es keine Versuchung mehr, die kleine Sekund heulen zu lassen, ebensowenig, wie in den Liedern "Im Rhein, im heilgen Strome" und "Ich grolle nicht" die Baßgewalt grollen zu lassen, wie die meisten Sänger. Stets bleibt das ganze Lied, der ganze Zyklus vor seinem geistigen Auge, trotz der intensiven Text-Deklamation, die den Hörer vergessen läßt, daß da zugleich eine warm timbrierte, weiche Baßstimme virtuos geführt wird, bleiben die Lieder Volkslieder mit ihrer zarten Seeleneinfalt, die Schumann so wunderbar zu treffen verstand.

Hatten den Sänger bei früheren Schumann-Abenden Gerald Moore und Jörg Demus begleitet (der in diesem Jahr mit Peter Schreier auftritt), so jetzt Christoph Eschenbach, den er in letzter Zeit bevorzugt. Der Pianist vermag sich der Dynamik und dem Stimmausdruck des Singenden chamäleonhaft anzupassen, das Zweitbeste nach einem Gleichklang zweier gleich starker Persönlichkeiten, wie er sich bei Svjatoslav Richter und Fischer-Dieskau ergab. Die von Schumann so gern verwendeten harmonischen Halbschlüsse, mit denen die Singstimme endet, führte Eschenbach mit gleichgewichtigem Ausdruck in die Schlußkadenz. An dem begeisterten Beifall, der mit vier weiteren Schumann-Liedern belohnt wurde, hatte der expressive Pianist starken Anteil.

Winfried Wild

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