Zum Liederabend am 12.3.1975 in Essen


     Westdeutsche Allgemeine, Essen, 15. März 1975     

Herzton der Romantik

Fischer-Dieskau sang Eichendorff-Lieder

  

Im Saalbau gab Dietrich Fischer-Dieskau einen Liederabend besonderer Art. Er enthielt nur Gedichte Joseph von Eichendorffs als Texte zu Kompositionen von der Romantik bis zur Gegenwart. Gelegenheit für den Hörer, sich über enge Wechselwirkungen von Wort und Ton im "Zeitkolorit" klar zu werden und zugleich den Traum der Kunst in seiner ganzen phantastischen Realität zu erleben.

In seiner berühmten Rezension über Beethovens c-Moll Symphonie meinte E.T.A. Hoffmann, der romantische Geschmack sei selten, noch seltener das romantische Talent, und daher gebe es wohl so wenige, die jene Klänge anzuschlagen vermöchten, welche "das wundervolle Reich des Unendlichen" aufschließen. Gegen sie ist man in unserer nüchternen Epoche fast immun geworden. Umso größer ist die Faszination, die von Fischer-Dieskaus Vortrag ausgeht. Seine Meisterschaft hat nichts mit "verschwommenen Gefühlen" gemein. Sie wirkt durch die hohe Besonnenheit für die Einheit von Inhalt und Form. Sie signalisiert die Harmonie von "Stil" und tiefer individualisierender Empfindungsfülle, in der sich Intellekt und Seele verschwistern.

An dem Dualismus von Wortpoesie und Musik "mystik" hat der Sänger immer wieder herumgefeilt. Heute hat sein Vortrag jene ununterscheidbare Kongruenz der heterogenen Ausdrucksmittel gefunden, die das Kunstlied umfaßt. Hinzu kommt die einzigartige Gleichgestimmtheit einer lange bewährten Partnerschaft mit dem Pianisten Günther Weißenborn, fesselnd bestätigt an den Eichendorff-Liedern von Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Pfitzner, Wolf und nicht geringeren "neuen" Vertonungen von Bruno Walter, dem großen Dirigenten, und Reinhard Schwarz-Schilling, Jahrgang 1904.

A. v. D.

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     Ruhr-Nachrichten, Essener Tageblatt, 14. März 1975     

Vom Posthorn und der Nachtigall

Romantischer Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau im Essener Saalbau

     

Das Posthorn bläst keck einher, die liebe Nachtigall singt mit hellem Schall zum Klang der treuen Laute: beschworen werden das Waldesrauschen und die traurig-traute Einsamkeit – deutsche Romantik, genauer, Texte von Eichendorff in diversen Vertonungen einen ganzen Abend lang wäre unter landläufigen Umständen sicherlich nicht jedemanns Sache.

Wenn sich aber Deutschlands Meisterbariton Nummer eins, Dietrich Fischer-Dieskau, dieser Dinge annimmt, sie in schier unnachahmlicher Weise dem Meisterkonzert-Publikum im Essener Saalbau präsentiert, kann’s einem schon den Atem verschlagen. Nicht nur in Sachen sängerischer Perfektion. Denn Fischer-Dieskau, der inzwischen auch seinen dirigentischen Ambitionen freien Lauf läßt, versteht sich wie kaum ein anderer auf eine differenzierte Textausdeutung. Allein sie bestimmt den melodischen Duktus, die Kleinform Lied gewinnt bei ihm an einheitlicher Aussage, sie wird ein Ganzes.

Im Saalbau griff Fischer-Dieskau auf Vertonungen unterschiedlichster Qualität zurück: Mendelssohns Eichendorff-Nachempfindungen geraten ihm dabei vielleicht eine Spur zu grüblerisch, nicht naiv genug. Großartig weiß er dagegen die Schumannschen Vertonungen zu gestalten: hauchzart im Lyrischen, kräftig-sonor in den melodisch oder textlich exponierten Situationen lotete er die kleinsten Wendungen dieser kostbaren Miniaturen aus. Auch die Spätromantik eines Hans Pfitzner ist frei von dicklichem Pathos. Dem puren Schönklang sind Tür und Tor geöffnet.

Bruno Walters kompositorische Versuche ins Programm aufzunehmen, kann wohl eher als Verbeugung vor einem großen Dirigenten gewertet werden. Ähnliches mag bei den Vertonungen des Berliner Komponisten Reinhard Schwarz-Schilling im Spiele sein. Gerade in der Auswahl der Wolf-Lieder aber beweist Fischer-Dieskau nachdrücklich, daß er eine in den letzten Jahren registrierte stimmliche Instabilität wohl völlig überwunden hat.

Günter Weissenborn am Flügel versteht es prächtig, selbst kleinste agogische Freiheiten mehr als zuverlässig abzusichern. Freilich, eigenständige musikalische Impulse vermag der Pianist kaum beizusteuern. Stürmischer Beifall.

Johannes K. Glauber

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