Zum Liederabend am 28. März 1975 in Heidelberg


      

     Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg,  1. April 1975     

Mit Eichendorff durch Deutschlands Städte

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in Heidelberg

Am Flügel: Günther Weißenborn

   

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau nicht gerade an einem Buch schreibt, dann tut er das, was er schon immer am besten konnte: singen. Zur Zeit ist er mit einem Eichendorff-Programm unterwegs. Wenn er am 5. April in Freiburg die letzte Zuganbe gesungen haben wird, dann liegen 16 Liederabende mit je einem Ruhetag dazwischen hinter ihm. Ein Mammutprogramm selbst für einen Sänger, der sich und seiner Konstitution gegenüber nicht gerade als zimperlich bekannt ist.

Nur stellt sich im Hinblick auf das umfangreiche Itinerar Fischer-Dieskaus die Frage, was in diesem Fall Liedinterpretation sei: einmalig gelingende Begegnung von Sprache und Musik oder ein Verfahren, das möglichst oft ein Optimum an sängerischer Leistung ermöglicht. Eine 16teilige Tournee zehrt am Inspirationsvorrat, so daß gegen Ende – Heidelberg war die viertletzte Station – rein rechnerisch nicht viel mehr als das Modellhafte, Trainierte der Interpretation übrig bleiben müßte.

Diese Rechnung stimmt jedoch bei Fischer-Dieskau nicht. Gewiß, manches der einzigartigen stimmlichen und stilistischen Mittel dieses Sängers kehrt stereotyp wieder, etwa das unnachahmliche Abgleiten in die Kopfstimme oder die Subkjektivismen des Vortrags kurz vor der Grenze zur Manieriertheit – aber Verschleiß, Vertonungs-Gesinnung, Reproduktion mit der linken Hand gibt es nicht einmal in Ansätzen.

Wie macht das Dietrich Fischer-Dieskau? Woher solches Unverbrauchtsein eines vielbeschäftigten, gegen seine eigene Werbung offenbar machtlosen Sängers? (Fischer-Dieskau in Großaufnahme auf dem Kühlschrank hinter der Theke des Foyers, mit Flaschen garniert). Mit Robustheit allein wäre es nicht getan. Fischer-Dieskau schöpft vielmehr seine sängerische Inspiration unmittelbar aus der Sprache. Er ist zweifellos der Sänger mit dem feinsten und hellhörigsten und differenziertesten Sprachgewissen. Das Gleichgewicht, die Harmonie zwischen Sprache und Musik, die dieser Sänger erreicht hat, die Freiheit eines von keinem semantischen Zwang behafteten Ausdrucks und die Freiwilligkeit, mit der sich bei ihm Musik und Sprache zu einer Ganzheit zusammenschließen, sie bilden das eigentliche Erkennungszeichen Fischer-Dieskaus und weisen ihn in der Tat als einen der klügsten Sänger aus, die weit seltener sind als die sogenannten "großen" Sänger.

Das Eichendorff-Programm entspricht ganz Fischer-Dieskaus Sinn für geschlossene, "leitmotivisch" eine historische Perspektive dingfest machende musikalische Unternehmungen. Die Nähe der Sprache Eichendorffs zur Musik ist natürlich d a s Thema für Fischer-Dieskau; aber es geht ihm nicht um den Nachweis der Musikalität dieser Sprache, sondern um ihre seelische Wirklichkeit und um ihre Resonanzfähigkeit. Zu zeigen, daß diese Sprache auch die eines Leidenden und Einsamen ist, daß die blaue Blume auch eine Blume des Todes ist, daß Romantik nichts mit Idylle, sondern mit einer Konfession zu tun hat, darum geht es Fischer-Dieskau und dafür setzt er seine so verschwenderisch wirkende und dabei so zielgenau vorgehende Liedkunst ein.

Schön, daß er nicht bei Schumann und Mendelssohn und Wolf stehenblieb, sondern auch die Liebe eines Hans Pfitzner, eines Bruno Walter (wer sonst singt schon dessen Lieder?) und eines Reinhard Schwarz-Schilling zur Lyrik Eichendorffs belegte. Das gab Raum für zusätzliche Register, etwa für die Emphase der Wehmut in Pfitzners Vertonung "Im Herbst", für den burschikosen Elan des "Soldaten" Bruno Walters, für den elegischen, das Schweigen suchenden Ton des "Marienliedes" Schwarz-Schillings oder – dies als Beispiel für Fischer-Dieskaus munteren Szenenwechsel – für die mimische Koketterie in der "verstimmten Violine".

Einziges Zugeständnis Fischer-Dieskaus an seine Tournee: er hält sich mit der vollen Kraft seiner Stimme und ihrem stämmigen, kernigen Glanz mit wenigen Ausnahmen ("Seemanns Abschied" von Wolf) zurück. Das mezza voce dominiert, jedoch in einem Reichtum und in einem Umfang der Dosierungsmöglichkeiten, die den Tribut an einen Reisemonat mehr als vergessen lassen. Zudem zeigte sich Fischer-Dieskau freigebig wie selten: er sang, immer wieder vom Publikum gefeiert, Zugabe um Zugabe. Eine halbe Stunde lang. Daß er Günther Weissenborn stets in den Applaus miteinbezog, geschah nur zu Recht. Denn dieser Pianist ist nicht nur ein Wunder an Beständigkeit, sondern auch an fordernder und fördernder Tatkraft. Ein Liedbegleiter vom Schlage Gerald Moores. Dementsprechendes Gewicht hat das Ergebnis.

Hansdieter Werner

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     Mannheimer Morgen, 1. April 1975     

Begegnungen mit Eichendorff

Dietrich Fischer-Dieskau gastierte in der Heidelberger Stadthalle

     

Einem Dichter galt dieses 7. Meisterkonzert in der Heidelberger Stadthalle: Joseph von Eichendorff. Vertonungen aus zwei Jahrhunderten bot Dietrich Fischer-Dieskau, und er unterstrich mit diesem Programm die vielschichtige, aber doch sanfte Vormundschaft des Intellekts über sein Künstlertum. Derlei beginnt mit der Arbeit an einer Stimme, die zum Instrument von beglückender Elastizität geworden ist, obwohl man an ihrem Grund noch die Schatten widerborstiger Übergänge registriert – und die keineswegs als betörend "schön" im landläufigen Sinne gelten kann. Weiter führt das zu einem steten Mühen um die Aussprache, zu einer hohen Kunst der Rhetorik und bis hin zu eigenwilliger Selbstdarstellung.

Aber solche Pfade lenken nicht immer zum Ziel. Das galt an diesem Abend vor allem für drei Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy, in die Fischer-Dieskau zuviel hineintrug, in denen er allzu schroffe Kontraste auftat; Mendelssohn ist zu Recht der "romantische Klassizist" genannt worden, seine Verankerungen in Klarheit und Ebenmaß erlauben nur begrenztes Hinzutun. Auch bei den folgenden fünf Schumann-Liedern hätte ich mir noch für manche Einzelheit eine Wendung ins Intimere gewünscht; aber wie majestätisch manifestierte sich hier bereits der harmonische Akkord dreier Poeten: des Dichters, des Komponisten und des Sängers.

Den "großen" Fischer-Dieskau erlebten wir dann zuerst bei fünf Liedern von Hans Pfitzner; hier faszinierte, wie er weite Räume ausschritt, wie er die einsame Meisterschaft dieser Kompositionen gleichsam werbend darlegte – welche fein abgetönte Kunst des Fragens etwa in der "Lockung"! Sie erweiterte sich zur Frage nach unserer Einstellung gegenüber dem Komponisten: warum vernachlässigen wir ihn heute so sträflich?

Zu den Musikern, die sich um Eichendorff bemühten, zählen auch Bruno Walter und der langjährige Berliner Kompositionsprofessor Reinhard Schwarz-Schilling. Unverkennbar, wie Fischer-Dieskau die Vertonungen dieser beiden als Vorlagen für großartige Liedinszenierungen benutzte, als Materialien für einen übergeordneten Zweck; wer mag ihm das verübeln?

Es war sicher kein Zufall, daß er gerade danach eine Gruppe von Gesängen Hugo Wolfs folgen ließ: der Interpret zog sich wieder in die Rolle des Dienenden zurück, ganz aufmerksam den Stimmen der Meister lauschend, die sich da begegnen, und genial die Nahtstellen zwischen Wort und Musik aufspürend, von denen die Kunst eines Hugo Wolf ihren Ausgang nimmt. Im Dienen und in der Anpassung sah Günther Weißenborn insgesamt seine Aufgaben am Flügel, vieles aber präsentierte er ein bißchen hausbacken.

Werner Steger

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