Zum Liederabend am 1. April 1975 in Karlsruhe


    

     Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe,  4. April 1975     

Zwielicht und Lockung eines Liederabends

Fischer-Dieskau sang Eichendorff in der Karlsruher Stadthalle

     

Wenn ein Eichendorff-Liederabend von Fischer-Dieskau so lange dauern könnte wie eine Bilderausstellung von Caspar David Friedrich, so würden zur Zeit vor der Karlsruher Stadthalle Menschenschlangen stehen, geduldig auf einen freien Platz wartend wie kürzlich in Hamburg vor der Caspar-David-Friedrich-Ausstellung. Was Soziologen, Politologen und Kunstwissenschaftler nicht für möglich gehalten, ja zuerst als absurd abgelehnt hatten, dort geschah es: Jedermann entdeckte Caspar David Friedrich. Jung und alt eilte hin, um sich mit ihm zu identifizieren. Ein Stück Leben, lange für entbehrlich gehalten, erwies sich als Magnet, dem sich das Innerste zukehrte, dem es zuflog, an dem es sich erkannte, erholte, befreite.

Ja, wenn ein Liederabend so lange dauern könnte! Da hätte es sich herumgesprochen, was da für ein Magnet am Werke war, uns zu befreien von all der Tünche und der Hast unserer vermeintlichen Notwendigkeiten. Die Beschränkung und die Beschränktheit unseres Ich, die wir hinnehmen müssen, dort hätte sie den Pol gefunden, ohne den sie uns in immer massenhafter auftretenden Neurosen verdirbt. All die Fernesüchtigen, all die Müden, Abgespannten, alle die, die nicht wissen, warum sie unzufrieden sind, sie alle hätten dort den Zauberer gefunden, der ihnen die Welt zeigt, die es auch noch gibt, die wahr ist wie die Welt, die wir als einzig wirkliche zu verwalten glauben.

Caspar David Friedrich hat in Hamburg auf sensationelle Weise bewiesen, wonach die Massengesellschaft auch Sehnsucht hat und nicht nur Sehnsucht, sondern ein Anrecht, das ihr nicht vorenthalten werden dürfte von einem plump und lahm dahinvegetierenden Bildungskonzept. Die Unmöglichkeit, in Karlsruhe auch für Jugendliche, Kinder und andere, denen der Geldbeutel nicht überquillt, gute Konzertplätze zu kaufen, ist traurig. Es ist kein Wunder, daß die hintere Hälfte der Stadthalle selbst bei einem solchen Konzert leer bleibt, denn man hört ja hinten kaum die Hälfte dessen, was die Stadtväter auf der ersten Reihe zu hören gewohnt sind. Alle hätten ein Recht auf ein solches Konzert.

Bei Caspar David Friedrich wurde bewiesen, welchen Zulauf Eichendorff haben könnte. Der Maler und der Dichter waren die beiden letzten Romantiker, zugleich aber auch die beiden ersten Impressionisten. Beide hatten die Kraft, dem Epigonen- und Mitläufertum, das sich in Zeiten des Umbruchs ausbreitet, zu entgehen und unverwechselbare Höhepunkte im künstlerischen Schaffen zu setzen trotz oder wegen harten menschlichen Enttäuschungen. Beide kamen aus dem Land an der Oder, in dem ein stetes Ringen der Gegensätze von Nord und Süd und Ost und West zur Mystik geführt hatte. Beide haben aus der Spannung zwischen Heimweh und Fernsucht, zwischen Geborgenseinwollen und Lust am Grauen ein Kunstwerk gemacht. Beide haben Irrlichter gesetzt zwischen Religion und Dämonie. Und noch dort, wo Eichendorff scheinbar harmlose Strophen reimte, hat er sie, sieht man näher nach, zwielichtigen Personen in den Mund gelegt, so daß auch das Harmlose Anlaß zur Meditation wird.

Fischer-Dieskau weiß das alles, singt das alles, überträgt es auf den Hörer ohne Eigennutz. Es war faszinierend zu hören, wie der Sänger zuweilen aus reiner Lust am Spiel oder wie um sein Stimm-Volumen kurz zu testen auf den vollen herrlichen Klang seiner ohrenscheinlich noch immer gewaltiger werdenden Stimme schaltete, schnell aber wieder zurücknahm, um dem Zwielicht nicht zu wehren, den Doppelbödigkeiten, dem Grauen, der Lösung des Grauens. Einmalig, wie Fischer-Dieskau aus schmerzlich-nacktem Sprechgesang ins Volle gehen kann und sofort wieder ins Kindlich-monotone oder ins Nixenhaft-betörende: Ganz wie die Dichtungen "Zwielicht" oder "Lockung" es wollen, Überschriften, die den Kern der Dichtung von Eichendorff bloßlegen, ein Kern, der auch in allen andern seinen Dichtungen auf das Herausschälen wartet. Ein Kern, der oft verdeckt bleibt, verharmlost bleibt, weil man das "Leben eines Taugenichts" vielleicht aus einem vordergründigen Film auf den ganzen Eichendorff überträgt, nicht wissend, was da in Wahrheit passiert.

Ins Nichts geworfen, verloren und die Meditation, die Stille gefunden, das ist Eichendorff. Das Wunderbare ist, daß Fischer-Dieskau nicht nur diesen Eichendorff interpretiert, sondern auch gleichzeitig Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Pfitzner, Bruno Walter, Schwarz-Schilling und Hugo Wolf. Er hat Lieder ausgesucht, die bereits ihrerseits als Komposition so der Dichtung entsprechen, daß man meint, nur so könne Eichendorff gedichtet haben, gleich mit dieser Musik. Auch die vier Zugaben von Schumann, Pfitzner und zweimal Hugo Wolf zauberten noch einmal die völlige Verschmelzung von Komposition und Dichtung, die doch eigentlich das Leben dem Sänger verdankt. Und dem Pianisten natürlich, und es ist sicherlichg Günther Weißenborn recht, daß man ihn fast vergißt, so eng versponnen wirkt er mit dem Sänger zusammen, so wie es Fischer-Dieskau recht sein möge, wenn wir ihn zurücktreten hörten hinter dem Leuchten, das er angezündet hat und das Eichendorff heißt.

Schi

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