Zum Liederabend am 27. Oktober 1975 in New York 


   

     Aufbau, New York,  14. November 1975     

Die Arrivierten und die Nachhut

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Von den drei Konzerten Dietrich Fischer-Dieskaus (in der Carnegie Hall) habe ich das letzte, eine "Eichendorffiade" (mit Jörg Demus am Flügel als des Sängers Begleiter) wahrgenommen. An der Einmaligkeit Fischer-Dieskaus gibt es nichts zu rütteln: die Grösse seines Liederrepertoires, die Vortragskunst (mehr vom Intellekt als von Gefühlen geleitet) und die Gesangskultur – wer vermag sich mit ihnen zu messen? Aber auch Götterlieblinge sind gegen die Natur nicht gefeit; sie altern wie alle Sterblichen und haben als Künstler ihre guten und ihre weniger guten Tage. Etwas strapaziert schien diesmal die Höhe einer Stimme zu sein, deren Träger ihr in zu rascher Folge vielleicht ein Zuviel zumutet. Auch waren andere Gestaltungsmittel für die von verschiedenen Komponisten vertonten Verse eines Dichters der Hochromantik befremdend: die helle und oft gedehnte Tönung der Vokale, das Verfallen auf Deklamation just bei gefühlsbetonten Zeilen wie "... in der Heimat klingen diese Glocken aus stiller Kinderzeit" oder "Sie erwachen alle wieder nachts in Waldeseinsamkeit."

Fischer-Dieskau hat der Liedgesang-Literatur einige Perlen entnommen, die andere Sänger nicht auf ihre Ketten fädeln: drei Mendelssohn-Vertonungen mit dem nach Shakespeare schmeckenden "Pagenlied", drei von Reinhard Schwarz-Schillings "Liedern nach Eichendorff" (Kennern bisher nur durch Schallplattenaufzeichnung vertraut) und zwei Lieder aus Bruno Walters Feder (der neben Liedern zwei Sinfonien, ein Choropus und Werke für Kammermusikensemble komponiert hat). Dazu kam je eine Gruppe Lieder von Schumann, Hugo Wolf und Hans Pfitzner – mit "Zwielicht", "Nachtzauber" und "In Danzig" als den wertvollsten und auch am besten interpretierten des Abends. Er fand den heutzutage den grössten Spezialisten ihres Faches vorbehaltenen Zulauf: ein bis zum letzten Podiumssitz ausverkaufter Saal – warum auch nicht? Aber wird das Reich des Liedgesanges von nur einem einzigen König regiert, soll man sich den Strahlen der rings um ihn leuchtenden Nebensonnen deshalb entziehen?

R. B.

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