Zum Liederabend am 23. Juli 1976 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 1976     

Münchner Festspiele 1976

   Reflex eines Dichters in der Musik

Dietrich Fischer-Dieskaus Eichendorff-Liederabend

       

Bei den Festspielen gedeiht der Liederabend mit höherem Anspruch, der Liederabend als literarische und geistesgeschichtliche Disziplin. Zuerst durchmaß Hermann Prey die Mörike- und Eichendorff-Vertonungen Hugo Wolfs, nun verdeutlichte Dietrich Fischer-Dieskau, der heute schon zu einer Schlüsselfigur der Interpretationsgeschichte gewordene Begründer des literarischen Konzerts, den Reflex der Verse Joseph von Eichendorffs in zwei stürmischen Jahrhunderten der Liedgeschichte. Überwältigend war nicht nur die nachschöpferische Akribie, mit der er der Eigenart eines jeden der Eichendorff-Vertoner in Ausdruck, Deklamation und Klangfarben gerecht wurde – überwältigend blieb vor allem Fischer-Dieskaus sanft-beharrliche Entschiedenheit, sein Eichendorff-Bild durch die vielen und gegensätzlichen Kompositionen hindurchscheinen zu lassen. Sein Eichendorff, der Eichendorff eines modernen Intellektuellen, ist ein Musiker in Worten, übersensibel und gefährdet wie jeder dieses Schlags, ein Verwundeter, der sich zur Natur flüchtet, ein melodischer Artist der Untertöne, Beiklänge, Schauder und Nachtfarben – eine problematische, keine naive Natur in romantischem Kostüm. Im Programmheft ließ sich Fischer-Dieskau zur Psychologie seines schlesischen Hausheiligen vernehmen; man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß Eichendorff und sein Widerschein im Klavierliede das Thema von Fischer-Dieskaus nächstem Buche sein wird.

Den Gang durch die Liedgeschichte anhand eines Dichters unternahm Fischer-Dieskau im überfüllten Herkulessaal gemeinsam mit Wolfgang Sawallisch, einem Pianisten des Begleitens und Mitdenkens, einem universellen Musiker, der Persönlichkeit genug ist, sich mit einer anderen Persönlichkeit zu verständigen, ohne Schaden an seinem Mitspracherecht, seinem weichen Anschlagstimbre, seinem Rhythmus und Feuer zu nehmen. Das Ideal des Liederkonzerts als Intimkunst des Einvernehmens erfüllte sich. Fischer-Dieskau lenkte den überschwenglichen Beifall immer wieder auf den mitatmenden Verbündeten, und man mag dies als Hinweis verstehen, daß München seit den Tagen Bruno Walters keinen Generalmusikdirektor von ähnlicher Vielseitigkeit und Breite besessen hat.

Man begann mit duftiger Frühromantik, mit dem unwiederbringlichen Paradies der neueren Musik. Mendelssohn vernahm bei Eichendorff die Wunderhorn- und Volksliedkomponente, faßte sie strophisch, verwirklichte sie in klarer Melodik. Um so deutlicher wurde der Schritt zu Schumann, zur differenziert subjektiven Deutung, zur Nachtseite Eichendorffs und den Seelenlandschaften des Liederkreises. Fischer-Dieskau machte keine Konzessionen an den liederfeindlich großen Saal, hing selbstvergessen den Worten nach, kostete die Virtuosität seiner Dynamik aus und setzte mehr Farben aus Verstand und Gefühl, als sie ein Gesangsbeflissener gemeinhin ahnt. Pfitzners Nachtszenen erhoben sich mit verdeutlichendem Pathos. Am innigsten klang das zugegebene Lied "Zum Abschied meiner Tochter", wo der ostinate Rhythmus des Reisewagens zum Sinnbild von Zeit und Vergänglichkeit wird, zum wehmütigen Seitenstück zu Schuberts "An Schwager Kronos".

Der Jugendstil mit forcierter Einfachheit und kokett punktierten Rhythmen bevorzugte den in Grenzen heiteren, genrehaften, vom jungen Goethe angehauchten Eichendorff. Bruno Walter hieß hier der Wortfüher. Ins Surreale kippt der 1904 geborene Zeitgenosse Reinhard Schwarz-Schilling die sanften Scherze, den Posthornklang und die choralisch gefaßte Frömmigkeit Eichendorffs. Was die Verse auf die knappste Formel bringen, wird in ausmalende Musik aufgelöst; die Bewußtheit der Nachwelt schafft tönende Kommentare zu den Gedichten.

In der Mitte zwischen melodisch strömender und intellektuell sezierender Vertonung steht Hugo Wolf, den Fischer-Dieskau und Sawallisch mit Raffinement der Nuance interpretierten: literarische Ereignisse für Wort, Kehle und Klavier. Wolfs Schürfen nach den Ab- und Hintergründen eines Gedichts versteht Fischer-Dieskau aus schier brüderlicher Sympathie mit einem Einsamen und Besessenen. Man vergißt, mit wieviel gesangstechnischem und deklamatorischem Aufwand dies bewirkt wird, überhört winzige, wohl dem allgemein empfundenen Wettersturz zuzuschreibende Verkürzungen des Atems und steht einer Eichendorff-Wolf-Interpretation von höchster Bewußtheit und schönster Empfindung gegenüber. Dem Effekt wurde kein Zugeständnis gemacht, nicht einmal beim "Musikanten" oder im Fortissimo von "Seemanns Abschied". Nur die Poesie und ihre nächste Verwandte, die Musik, zählten. Sogar die Zugaben – Schumann, Pfitzner, Wolf – gehorchten dem geistigen Anspruch dieses Eichendorff-Abends.

Karl Schumann

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     Münchner Merkur, 26. Juli 1976     

MÜNCHNER FESTSPIELE

Eichendorff-Weisen

Dietrich Fischer-Dieskau singt wenig bekannte Lieder

   

Daß Dietrich Fischer-Dieskau nicht nur der oberste, sondern auch der intellektuellste unter den Liedersängern ist, klingt wie ein Klischeebegriff, ist aber hundertfach belegbare Tatsache. Es liegt daher nicht auf der Hand, daß zwischen ihm und Joseph Freiherrn von Eichendorff, dem Inbegriff deutsch-romantischer Poesie, eine meßbare Affinität besteht, und der Anfang von Fischer-Dieskaus Eichendorff-Liederabend im Rahmen der Festspiele schien dies zunächst zu bestätigen; die liebenswürdige Schlichtheit von drei Mendelssohn-Vertonungen, aber auch die vier Lieder aus dem Eichendorff-Liederkreis und der "Einsiedler" aus Op. 83 (aus dem Jahr 1850) von Schumann waren im Ausdruck oft zu stark zurückgenommen. Aus Angst vor Pathos, vor Überpointierung, oder vor Sentiment? Aber es sind ja keine Volkslieder, wenn sie auch zuweilen deren Gewand tragen.

Großartig dann, als erster Höhepunkt der Gestaltung, eine Pfitzner-Auswahl: "Im Herbst" aus den Eichendorff-Liedern Op. 9, je eines aus Op 7, 22 (das bizarre "In Danzig") und 26 (das wunderbare "Nachts") und eines der Sonette aus Op. 41 (1931). Nach der Pause zunächst eine Rarität: zwei der kaum bekannten Kompositionen Bruno Walters, der ein großer Verehrer des Dichters (und schlesischen Landsmanns) war; im melodischen Duktus ein wenig wagnerisch und nicht sehr sangbar. Und danach drei Vertonungen des Hannoveraners und Berliner Akademie-Professors Reinhard Schwarz-Schilling, die – so könnte man sagen – für einige Dutzend gleichwertiger Eichendorff-Komponisten stehen sollten. (Von den Großen aus dieser Reihe fehlten übrigens Brahms und Reger.)

Danach aber empfand man doppelt deutlich: ein Glück, daß es Hugo Wolf gibt. Hier dann auch die absolute Identifikation durch den Interpreten, beispielhaft im "Nachtzauber", im "Nachruf", in "Seemanns Abschied". Daß sich gesanglich alles auf einsamer Höhe vollzog, muß nicht betont werden; Fischer-Dieskau ist im Vollbesitz seiner Stimme, die er – als seltene Ausnahme – nur zweimal (im Forte) aus der Kontrolle verlor. Wolfgang Sawallisch am Flügel: von fabelhafter Zuverlässigkeit, aber zu farblos für die blaue Blume der Romantik und von nüchternem Brio, wenn es um Überschwang geht.

Daß das Programm kaum Bekanntes enthielt, entspricht dem Aufbau heutiger Liederabende. Einzig populär: Wolfs "Musikant". (Um sein bekanntestes Eichendorff-Lied, das patriotische "Heimweh", ist es still geworden.) Die Zugaben, durch Ovationen im übervollen Herkulessaal erzwungen, auf der gleichen Linie – bis auf den endgültigen Abschluß, einen Abschluß von meisterhafter Vollkommenheit mit Schumanns "Mondnacht".

Karl Robert Brachtel

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     Mittelbayerische Zeitung, Regensburg, 27. Juli 1976     

Schläft ein Lied in allen Texten...

München: Eichendorff-Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

    

Den hohen Ansprüchen an einen Festspielliederabend genügte das Münchner Auftreten Dietrich Fischer-Dieskaus zusammen mit GMD Wolfgang Sawallisch in besonderem Maße. Die private Freundschaft der beiden Künstler und das daraus herauswachsende gemeinsame Musizieren hat zu einer fast greifbaren künstlerischen Übereinstimmung geführt, in der keine der beiden Persönlichkeiten dominiert oder zuviel an eigenem Profil aufgeben muß. Wolfgang Sawallisch bestätigte erneut, daß es keine Publicity-Marotte ist, neben zahlreichen Dirigaten während der Festspiele auch noch als Begleiter aufzutreten: intime Klangabstufungen, Leichtigkeit und schon selbstverständlich gewordenes Mitatmen waren Grundlage und prägender Bestandteil des Abends.

"Über die Wirkungsgeschichte des Dichters Joseph von Eichendorff im Bereich des Kunstlieds" – so trocken und wissenschaftlich könnte die Programmwahl umrissen werden. Fischer-Dieskau gab damit – Vertonungen von Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Pfitzner, Bruno Walter, Reinhard Schwarz-Schilling und Hugo Wolf – einen repräsentativen Überblick über den eminenten Anreiz, den Eichendorff-Texte bis heute auf Liedkomponisten ausüben. In einem eigenhändigen Begleitaufsatz analysiert der Sänger diese Bevorzugung des Dichters. (Entsteht da nach dem Schubert-Buch ein Eichendorff-Lieder-Buch?) Für eine der Thesen – daß sich dem Dichter wiederholt der akustische vor die übrigen Eindrücke drängt und in seinen Texten immer wieder von Singen, Tönen, Instrumenten und Klängen die Rede ist – lieferte die Liedwahl treffende Beispiele.

Bei Mendelssohn wurde die eingängig klare Melodik ("Waldschloß") und der Volksliedton ("Pagenlied") neben frühromantischem Zauber ("In der Fremde", "Zwielicht") vorgestellt. Bei Schumann war die psychologische Vertiefung hin zur dunkel-herben Schattenseite des Lebens ("Der Einsiedler") deutlich. Die erweiterte Harmonik und ein strenges Pathos ("Nachts") traten als neues Profil der Pfitzner-Lieder zutage. Der ehemalige GMD Bruno Walter wurde als Liedkomponist vorgestellt: aufgetönte Spätromantik mit spielerischen Rhythmen ("Der Soldat"). Als Zeitgenosse war Reinhard Schwarz-Schilling aufgenommen, dessen ernste Religiosität von Eichendorff angesprochen war und einen Klangteppich zum Text ausbreitet ("Marienlied"). Schwerpunkt des Abends wurde der Hugo-Wolf-Teil, dessen Feinheiten, blitzender Deklamationsstil und sich plötzlich auftuende Gefühlstiefe Fischer-Dieskaus Liedverständnis voll entsprechen. Zum Schönsten des ohnehin großartig gestalteten Abends wuchsen die ganz zurückgenommenen, "innerlichen" Lieder empor: "Nachtlied", "Nachtzauber", "Wanderers Nachtlied". Gestaltungskraft, Pianokultur, Stimmschattierungen und Kunsternst flossen zusammen – Liedkunst in Vollendung.

Das betroffene und gebannte Publikum belohnte der Künstler mit fünf Zugaben.

Wolf-Dieter Peter

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     tz, München,  26. Juli 1976     

Herz und Stimme...

   

Wie sinnvoll ist es, einen Liederabend nach literarischen Gesichtspunkten zusammenzustellen? Manchmal wünschte man sich, Dietrich Fischer-Dieskau hätte sein Programm nicht auf Eichendorff, sondern auf Schumann oder Hugo Wolf aufgebaut.

Die drei Lieder von Mendelssohn Bartholdy, irgendwo zwischen Volks- und Kunstlied angesiedelt, lassen uns seltsam unbeteiligt. Hans Pfitzners Kompositionen klingen mehr bombastisch als dicht, wie Lieder von Richard Strauss, wenn dem einmal nicht allzu viel eingefallen ist. Bruno Walters und Reinhard Schwarz-Schillings Vertonungen sind zumindest interessant, schon weil man ihnen im Konzertsaal selten begegnet.

Doch die Höhepunkte waren ganz eindeutig Schumann und Wolf. Voll süßer Melancholie und stiller Resignation Schumanns "Zwielicht", voll von prallem, hinreißendem Humor "Seemanns Abschied" von Hugo Wolf. Dietrich Fischer-Dieskau sang (fast) so schön wie eh und je; und sicherlich schöner, als es irgendein anderer bringen könnte.

Wolfgang Sawallisch am Flügel war ein stilvoller, sensibler Begleiter: Ein Herz und eine Stimme.

Das ausdauernde und begeisterte Publikum im ausverkauften Herkulessaal wurde mit vielen Zugaben belohnt, darunter mit einer "Mondnacht", die alle Wolken vom regenschweren Himmel verbannte.

H. R.

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