Zum Liederabend am 7. August  1976 in Salzburg


    

     Kurier, Wien, 9. August 1976     

Salzburg: Fischer-Dieskau sang Mahler

Balladen des Unterliegens

     

Von den sechs Liederabend-Programmen des heurigen Festspielsommers sind vier einem einzigen Komponisten gewidmet: Gundula Janowitz hat sich das Thema "Frauenschicksale im Schubertlied" gestellt, Edith Mathis und Peter Schreier werden Wolfs "Italienisches Liederbuch" aufführen, Hermann Prey singt auch hier seinen bei den Wiener Festwochen erfolgreichen Hugo-Wolf-Abend, und Dietrich Fischer-Dieskau wählte Sonntag im Kleinen Festspielhaus Gustav Mahlers "Wunderhorn-Lieder".

"Balladen des Unterliegens" nannte Adorno diese Abschieds- und Todesgesänge der armen Teufel und kleinen Leut’, der Tambourg’sellen und Schildwache, der Deserteure und gemeinen Soldaten ("Revelge", "Zu Straßburg auf der Schanz"), der Verfolgten und Gefallenen. Ein gespenstischer, unheimlicher Zug, dem Mahler volksliedhafte Melodik, stockende Marschrhythmen, grelle Trompetensignale zur Begleitung beigegeben hat. Der ganze Untergang der Monarchie klingt hier in Tönen an.

Dietrich Fischer-Dieskaus minutiöse Interpretationskunst wirkte da stellenweise doch eine Spur zu intellektuell, zu überspitzt, zu artifiziell für all die armen Teufel, denen er an diesem Abend seine Stimme lieh. Eine Wozzeck-hafte Dumpfheit, eine sehr österreichische Einstellung der geschundenen Kreaturen dem Tod gegenüber müßte hier durchklingen. Fischer-Dieskau, prächtig bei Stimme, traf den Ausdruck natürlich genau, überhöhte ihn aber gleich ins Allgemeingültige, ins sozusagen Geschichtliche, so daß das menschliche Einzelschicksal hinter der Botschaft der Lieder zurücktrat. Die Zerrissenheit freilich, die Nervosität, die Wehmut des Mahlerschen Idioms kamen durch ihn voll zur Geltung.

Eine Entdeckung für mich: Wolfgang Sawallisch am Klavier, ein Begleiter von hohem pianistischem Niveau und enormem Einfühlungsvermögen.

Andrea Seebohm

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    Süddeutsche Zeitung, München, 9. August 1976     

SALZBURGER FESTSPIELE

Fischer-Dieskau singt Mahler

"Wunderhorn"-Lieder mit Sawallisch im Kleinen Festspielhaus

   

Im ausverkauften Kleinen Festspielhaus sang Dietrich Fischer-Dieskau, am Flügel begleitet von Wolfgang Sawallisch, einen ganzen Abend lang Mahler: Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn", fünfzehn an der Zahl, und mit allen Zugaben werden es zwanzig gewesen sein. Sie sind allesamt vor der Jahrhundertwende entstanden, zwischen 1888 und 1899, einige haben als thematisches Material Eingang in Symphoniesätze (zwischen der ersten und vierten Symphonie) gefunden. Schon daraus ist zu erkennen, daß der "Volkston", den Mahler darin anschlägt, nicht in seinen angestammten Dimensionen verharrt, sondern seinen Ort da sucht, wo er "Bedeutung" gewinnt. Aber dazu bedürfte es nicht erst der Umsetzung ins Orchestrale, Symphonische; diese Lieder sind von vornherein etwas anderes als nostalgische Reminiszenzen oder Evokationen alter Zeiten, insofern sie nämlich das Lebensgefühl einer neuen, kommenden Zeit ausdrücken, nicht Romantik schlechthin (nicht einmal zurückgerufene), sondern Romantik des Fin de siècle, erfüllt von dessen Unruhe und Zweifeln, Schwermut und Ängsten.

Die Mehrzahl der Texte, mindestens jener, die an diesem Abend zum Vortrag kamen, hat den Tod vor Augen – Soldatentod ("Der Tambourgesell", "Wo die schönen Trompeten blasen", "Revelge", "Zu Straßburg auf der Schanz"), Kindertod ("Das irdische Leben"), Mädchentod ("Nicht wiedersehen!"); aber auch trotziges Aufbäumen kommt zu Wort, ein Sturm- und Drang-Rebellentum, wie es sich im "Lied des Verfolgten im Turm" (mit dem fast drohenden Refrain "Die Gedanken sind frei") Luft schafft, nimmt in der sozusagen monolithischen musikalischen Diktion eine Wendung zu Nietzsche, wird prometheisch oder zarathustrisch – von solcher "Belichtung" konnten die "Wunderhorn"-Sammler und Herausgeber Achim von Arnim und Clemens Brentano wahrhaftig nichts ahnen.

Aber vielleicht würden sich derartige "Durchblicke" auf die seelische und geistige Landschaft der "Wunderhorn"-Lieder auch heute nicht öffnen, hörte man sie mit unreflektierter "Schlichtheit" vorgetragen und nicht mit der psychologischen Intuition und interpretatorischen Intelligenz Fischer-Dieskaus, die – und das gilt auch von der pianistischen Souveränität und Sensibilität Sawallischs – diese Landschaft mit dem feinsten Sensorium für jede, auch die leiseste Veränderung ihrer Gefühlsebene durchwandert und sie in allen dynamischen, deklamatorischen und subtilsten rhythmischen Nuancen des sängerischen Vortrags zum Ausdruck bringt.

Natürlich kommt auch der bei Mahler fast immer ins Skurrile umschlagende Humor zu seinem Recht, in der "Ablösung im Sommer", dem "Rheinlegendchen" und der drastisch-anschaulichen "Fischpredigt des Antonius von Padua" (die als melodische Parodie auch im Finale der Vierten Symphonie wiederkehrt), und im letzten Stücklein des Programms "Selbstgefühl", das die für die Spätromantik so ungemein zeittypische Relativierung der ganzen poetischen "Ausstattung" der "Wunderhorn"-Gedichte in der Selbsterkenntnis eines sich außer Balance Fühlenden ("Ich weiß nicht, wie mir ist") bündig resümiert: "Ein Narr bist du gewiß."

Daß man solchen Gedanken zur stilistischen "Ortung" von Mahlers Liedschaffen in einem Konzert zweier zu schlechthin idealer Partnerschaft aufeinander eingestimmter Künstler Raum zu geben vermag, besagt nichts gegen den exquisiten Genuß, den dieses Konzert auch jenen bereitete, die fern allen Überlegungen nur beglückt zuhörten. Wie sollte es anders sein angesichts der Verbindung von geistiger Potenz und souverän vollendeter Gesangskunst, wie sie Fischer-Dieskau, von bis ins kleinste Detail spürsinniger Musikalität und pianistisch-klanglicher Delikatesse, wie sie Sawallisch darstellt? Daß beide, nach mancher chevaleresken gegenseitigen Verbeugung, am Schluß einander umarmten, war eine schöne Bekundung von Solidarität und Freundschaft in der Region großer Kunst. Beifall schier ohne Ende.

K. H. Ruppel

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    Salzburger Nachrichten, 9. August 1976     

Entscheidende Werte von Mahlers Musik

Dietrich Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch – 
Liederabend im Kleinen Festspielhaus

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Dietrich Fischer-Dieskau, der, mit Wolfgang Sawallisch am Flügel, im 2. Liederabend der Festspiele einzig Lieder von Gustav Mahler sang, ist der personifizierte Intellekt, der die Spaltungen im Kern dieser Werke deutlich zu machen versteht, der dem Text buchstäblich am Puls bleibt. Naivität freilich ist bei ihm eine Qualität des Ausdrucks, die Ergebnis nachgestalterischen Überlegens ist. Die Stimme selbst, sofern man bereit ist, sie vom Sänger losgelöst als Material zu denken, gibt den Tonfall der jugendlich-unverstellten Gebärde nicht mehr her, sie ist mehr als Medium von Bedeutungen zu fassen. Fischer-Dieskau weiß den Substanzverlust seiner Stimme – das bezieht sich auf die dynamisch angespannteren Passagen und vor allem auf die höheren Lagen – durch ausgesuchte Rhetorik und minutiöse Ausdrucksdramaturgie wettzumachen, was allerdings eine sängerisch-künstlerische Gratwanderung bedeutet. Die Überfrachtung des Wortes, die Spreizung von Phrasenenden scheint mitunter die Belastbarkeit der Sache zu übersteigen, so daß sich so etwas wie eine Interpretation der Interpretation einstellt. Dies irritiert und weist vom Gegenstand weg direkt zum Sänger. Und eben dort sollte man nicht hingelotst werden, denn Fischer-Dieskau ist, wie gesagt, nicht mehr ganz der Mann, der Töne unbelastet dirigieren und jede Farbe vom Piano bis zum dräuenden Forte auftragen kann.

Indes vermittelt Fischer-Dieskau in den Phasen besonderer Konzentration entscheidende Werte der Mahlerschen Musik, und dies scheint mir mehr von Nutzen zu sein als eine unbeschwerte, jung-dreiste Stimme, die über die Risse der Materie hinwegschmilzt.

Wolfgang Sawallisch hielt sich sehr an eine sparsam pedalisierte, sachbezogene Variante des Klavierspiels, was den komplexeren Liedern wie der "Revelge" ein bisweilen störend-wirkliches Antlitz verlieh. Gerade die irreal versprengten Floskeln am Ende der "Revelge" – und ähnlich auch die an sich martialischen Trommelmahnungen – nimmt Sawallisch adrett, zugeknöpft. Er, der Dirigent, spielt alles unanfechtbar, aber in der Zeichnung des Schlichten und Rein-Konturierten erschöpft sich sein Ausdrucksradius.

Das Publikum im Kleinen Festspielhaus kam nach 15 offiziellen Liedern nicht so schnell zur Ruhe und erhielt noch eine ganze Reihe von Mahler-Liedern, so daß an einem Abend Mahlers Liedschaffen wie als Zeitdokument zu erfahren war.

P. C.

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