Zur Oper am 3. April 1977 in München


Münchner Merkur, 5. April 1977

Grosse Überschrift

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau (kleine Überschrift)

Wiederaufnahme im Nationaltheater: "Parsifal"

Zu klein für die große Gebärde

 

Als eigentliche Substanz von Wagners künstlerischer Motivation beziehungsweise des Grundimpulses von Wagners Schaffen glaubte Nietzsche - sicherlich zu Recht -, die Halluzination der großen Gebärde erkannt zu haben. Bei der Konzeption des Weihespiels "Parsifal" stand jedoch im Hintergrund der Wunsch, Schopenhauers Mitleidsethik dramatisch zu verwerten. Die Naturanlage mit der Reflexion in Einklang zu bringen, ist aber ein aussichtsloser Versuch; immer wird die Naturanlage die Oberhand behalten. Deshalb scheint Wagner gar nicht erst versucht zu haben, in seinem "Parsifal" das Mitleidsmotiv anders als rhetorisch zur Geltung zu bringen. Wie denn auch? könnte man fragen.

Ob sich Dietrich Haugk bei seiner Jugendstil-Inszenierung diese Frage gestellt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Sichtbar geworden ist das Motiv ebensowenig wie vermutlich bei allen früheren Inszenierungen des Werkes. Um indes zur Sache zu kommen: auch der Grundimpuls konnte nur zum Teil Ausdruck gewinnen; nicht weil ihm die Inszenierung, sondern weil das Bühnenbild nicht dem Rahmen der großen Gebärde gerecht wird - gerade, wo es besonders darauf ankommt.

Der Jugendstil hätte dem Saal der Gralsburg nichts von seinem steinernen Pathos zu nehmen brauchen. Aber der Saal ist in Haugks Vorstellung zu klein geraten - ein mehr intimer Raum mit wenig Platz für große Gebärde und Repräsentation, schon gar nicht für die Repräsentation würdiger Ritter.

In höherem Maße als die anderen Werke des Meisters ist "Parsifal" eine Männersache. Die Wiederaufnahme macht dies namentlich an den Rollen der Kundry und des Gurnemanz offenbar. Kurt Molls souveräner Bariton, obgleich in der Tiefe mitunter vor dem Orchester zurückweichend, gibt der Gestalt alles, was man nur von ihr verlangen kann: Kraft, Überlegenheit, Güte, Selbstlosigkeit, männliche Schönheit - ein Naturspiel von einem Sänger, möchte man sagen.

Dagegen hat Nadine Denize Mühe, sich in dem Geflecht von Dienstbarkeit, Verruchtheit und weiblicher Faszination, das sie verkörpern soll, darstellerisch und gesanglich zurechtzufinden. Ihre Bemühungen um den reinen Toren im zweiten Akt sehen sich so an, als habe sie, die gerade erst Gezüchtigte, die Umschaltung zur Verführerin noch nicht ganz vollzogen; auch Mühe, die geforderten Gesten auch nur nachzuahmen. Die schrillen Töne hat sie alle; die unverzichtbare Wärme der Betörerin fehlt ihr selbst als Mimikry.

Fischer-Dieskaus Amfortas wirkt mit seinem hellen, auf tiefere Stützen gleichsam verzichtenden Bariton nicht zuletzt in seinem Kontrast zu Molls Gurnemanz. Gegen James King ist, von seinem um eine Nuance zu heldischen Tenor abgesehen, nichts einzuwenden, solange man nicht auf ihn blickt; er müßte mindestens zwanzig Jahre Gralskönig gewesen sein, um so auszusehen, wie er in seiner ausgereiften, durch den dunklen Dreß noch akzentuierten Männlichkeit aussieht. Seine Erscheinung kann sozusagen keinen Gebrauch von der musikalischen Belichtung machen, mit der ihm Wolfgang Sawallischs Orchester immer wieder liebevoll zu Hilfe kommt.

Christoph Meyer

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     Abendzeitung, München, 5. April 1977 

Einige Nummern zu groß

"Parsifal" im Nationaltheater

 

Zum Karwochenbeginn Wagners "Parsifal" im Nationaltheater. An der Kundry versuchte sich erstmals in München Nadine Denize.

Jedem eine Chance - aber für die sympathische Französin Nadine Denize ist die Kundry doch noch einige Nummern zu groß. Den, zugegeben verteufelten, zweiten Akt stand sie nur mit Mühen durch: Extreme Stellen wurden mit dem letzten Mut der Verzweiflung über die Rampe gewuchtet. Man spürte, wie zentnerschwer ihr das alles fiel, wie wenig Reserven die in den Piani durchaus wohltimbrierte Stimme besitzt. Dazu Probleme mit der Sprache, in Spiel und Gestik konventionell mit leichtem Hang zur Theatralik.

Daß dennoch die Aufführung streckenweise (1. Akt!) großes Format besaß, ist James King (Parsifal), Dietrich Fischer-Dieskau (Amfortas) und Kurt Moll (Gurnemanz) zu danken. Dirigent Wolfgang Sawallisch war wie immer mit bewundernswerter Emphase am Werk. In der Blumenmädchen-Szene hätte er sich allerdings ruhig zu etwas mehr Klangzauber entschließen können.

Volker Boser

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     tz, München 5. April 1977     

Palmsonntag mit Parsifal

Sawallisch und das Orchester stahlen den Stars die Schau

 

Um es vorwegzunehmen: Sawallisch und das Staatsorchester waren die unangefochtenen Helden der diesjährigen "Parsifal"-Wiederaufnahme. Ruhig atmende, weiträumige Lyrik, dramatisch-angestaute Spannungsbögen, ungetrübtes Blechbläserglück: eine verschworene Gemeinschaft im Orchestergraben stahl den Stars auf der Szene fast durchwegs die Schau.

Dietrich Haugks Jugendstil-Inszenierung wurde von Oskar Arnold-Paur in liebevoller Kleinarbeit perfekt nachvollzogen. Einige Ungereimtheiten des Originals (wie der ostentativ nach hinten gesungene "Erbarmen"-Ruf) sollten gelegentlich repariert werden.

Dietrich Fischer-Dieskaus Amfortas hat grandiose Momente, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Meisterliche nunmehr leichte Probleme hinter gewaltsamen Darstellungsdrückern zu verbergen sucht. Alles ist eine Idee zuviel geworden, und die unvergleichlich schönen Liedpiani kommen oft so abrupt, daß Sawallisch nicht schnell genug folgen kann.

James King als Parsifal ist immer noch erste Garnitur. Freilich wird es langsam schwer, im ersten und zweiten Akt den "Knaben" zu sehen. Doch gab es viel stimmlichen Glanz, und im dritten Akt ergreifende Piani und anrührende Aktion.

Der "Abendfüller" Gurnemanz wurde von Kurt Moll überzeugend schön präsentiert. Der Belcantist unter den Bassisten sang traumhaft stimm-edle Erzählungen und war alles in allem ein bewegend menschlicher Hüter des Grals-Tempels.

Die Kundry-Interpretation der Nadine Denize geriet tragischerweise in die Nähe einer Stimm-Exekution. Ein wunderschönes Organ wird hier auf erschütternde Weise verschleudert. Das technische Fundament dieser bildschön aussehenden und glänzend agierenden Sängerin trägt die Extrembelastungen der Kundry-Rolle in keiner Phase.

E. Lindermeier

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