Zur Oper am 11. Juli 1977 in München


Süddeutsche Zeitung, 13. Juli 1977

 Münchner Opernfestspiele

Ein in Grenzen toller Tag

"Figaros Hochzeit" unter Karl Böhm im Nationaltheater

Beim Theater hat nichts Bestand, schon gar nicht Aufführungen, die als Modell gepriesen werden. So zerbröckelte nun die vielgerühmte Festspielvorstellung von "Figaros Hochzeit", zum einen, weil Günther Rennert seine Regiehand abzog; zum anderen, weil Umbesetzungen nötig geworden waren; und schließlich auch, weil sich Karl Böhms Filigran-Mozart unter veränderten Bedingungen nicht mehr vollends realisieren ließ. Das Publikum geriet schon vor Beginn, als Karl Böhm ans Pult trat, in Euphorie und blieb diesem Hochgefühl treu.

Karl Böhms Interpretation ist weicher, intimer und weniger feurig geworden. Statt Alterswildheit der vorangetriebenen Zeitmaße und heftigen Akzente waltete eine Altersliebe zum Piano, eine Verfeinerung des Dynamischen, an der die Kantilenen der Sänger ebenso teilhatten wie das mit schwebenden Bläsereinsätzen und diskreten Kontrapunkten glänzende Staatsorchester. Der modische Vokalgigantismus - gelobt sei, was laut ist - wurde zugunsten einer fast kammermusikalischen, biegsamen Diktion aufgegeben, wodurch ans Licht kam, daß sich keine dynamische Vorschrift bei Mozart so häufig findet wie das Piano der Dezenz.

Allzu diskret

Mitunter wurde des Diskreten zuviel getan, so von Edith Mathis, der nach wie vor optimalen, doch an diesem Abend con sordino agierenden Susanna. Im Piano und Pianissimo mit vollem, weitgespanntem Atem zu singen, ließ sich Margaret Price angelegen sein, die nach Timbre und Intensität heute wohl tonangebende Interpretin der Gräfin. Das Piano als Grundnenner der Charakterkomödie exemplifizierte Dietrich Fischer-Dieskau: ein gertenschlanker, jugendlich aufbrausender Graf Almaviva aus der Spätzeit des Ancien Régime, komisch durch Ernsthaftigkeit, Herr der Situation durch rhythmische Energie (Finale des zweiten Akts) und durch pointiertes Auskosten von Lorenzo da Pontes abgefeimten Italienisch.

Nicht selten sah es aus, als käme fast jeder Darsteller aus einer anderen Inszenierung. Man traf sich hauptsächlich in gemeinsamer Anstrengung zur Heiterkeit, in frischfröhlichen Frontalwendungen ad spectatores, im Getümmel einer Opera buffa ohne sonderliche tiefere Bedeutung. Figaros rote Schärpe machte die Angelegenheit nicht brisanter, denn just dieser Figaro stimmte den Lustspielton an. Walter Berry, für den erkrankten Hermann Prey eingesprungen, gab den gewitzten und munteren Diener aus dem alten Lustspiel, eine saftige, prallkomödiantische Gestalt, einen buffonesken und zugleich vitalen Super-Arlecchino, der sein Publikum stets an der Hand hat. Die Stimme klang geschmeidiger, voller und abgestufter, als man sie aus jüngeren Fernseh- und Schallplattenproduktionen in Erinnerung gehabt hatte.

Wie stets war Brigitte Fassbaender eine Attraktion der Aufführung: ein Cherubino, der der ganzen Ausdrucksskala der Partie souverän entspricht und Abstecher in die Zonen des Verkleidungslustspiels mit Eleganz erledigt. Arie wie Canzone wuchsen aus der Situation heraus, wie denn überhaupt der Übergang vom Secco-Rezitativ zum Accompagnato gleitend und kaum merklich besorgt wurde. Der Irrwisch von Basilio (David Thaw) wehte aus der Comedia dell’arte herein; Gudrun Wewezow (Marcellina) befand sich auf dem besten Wege zur Charakterkomik; Benno Kusche (Bartolo) dosierte zurückhaltend seine Mittel; der meist unterrepräsentierte Gärtner Antonio erfuhr durch Alois Pernerstorfer den Umriß einer alkoholisierten Nestroy-Type.

Das der Oper zugrunde liegende Lustspiel des Beaumarchais heißt im Untertitel "Der tolle Tag". War aus Mozart-Beaumarchais’ tollem Tag ein toller Tag fürs Nationaltheater geworden? In Grenzen.

Karl Schumann


     

    Münchner Merkur, 13. Juli 1977     

Das Publikum feiert Karl Böhm

   

Der zweite Nationaltheater-Abend der Münchner Festspiele wurde - erwartungsgemäß - zu einem Fest der großen Stimmen und zum Triumph des großen alten Mannes am Dirigierpult. Ein Regiekonzept war in dieser Altproduktion von der "Hochzeit des Figaro" kaum mehr auszumachen: Zwischen gesellschaftskritischem, psychologischem oder einfach opernschematischem Spiel bewegten sich die Figuren je nach eigener Laune. Da mußte man schon froh sein, wenn im vierten Akt die Serienohrfeigen den richtigen Falschen trafen.

Dies tat der Freude an der aufgebotenen Starbesetzung jedoch kaum Abbruch. Da war das unübertreffliche Triumvirat der Damen: Margaret Price gab eine kraftvolle, manchmal sogar herrische Gräfin. Brigitte Fassbaender als Cherubin und Edith Mathis als Susanna waren so gut wie gewohnt - und das bedeutet eben Spitzenqualität.

Fischer-Dieskaus Graf strömte Wärme und Würde aus, von Stimme und Auftreten her auch an diesem Abend Optimalbesetzung. Schließlich der für den erkrankten Hermann Prey als Figaro eingesprungene Walter Berry. Neben seinen gesanglichen Qualitäten beeindruckt vor allem sein komödiantisches Parlando; seine Rezitative machen glauben, er sei in Trastevere aufgewachsen und nicht an der Donau.

Ein Pauschallob schließlich verdient das gesamte Ensemble, das sich dankbar der Führung Karl Böhms überließ. Souverän und klar ziselierte er alle Feinheiten der Partitur heraus, versteht er es, die musikalische Spannung über einen ganzen Akt zu halten, ja zu steigern. Die Intensität seiner Dirigierkunst ist unübertrefflich. Zu Recht wurde er gefeiert wie selten - minutenlanger Auftrittsapplaus, Ovationen am Ende.

Ferdinand Melichar


    

     "Oper und Konzert", München, 8/1977     

Nationaltheater

Figaros Hochzeit

    

Wenn auf dem Figaro-Besetzungszettel Karl Böhm, Margaret Price, Edith Mathis, Brigitte Fassbaender, Dietrich Fischer-Dieskau und Walter Berry stehen, dann spielt es kaum eine Rolle, daß von der Rennert-Regie nicht mehr übrig ist als von der ursprünglichen Besetzung: nur höhere Gewalt könnte ein festliches Ereignis verhindern.

Die Aufführung wurde denn auch über alle Maßen schön. Karl Böhm, der große alte Mann, wird anscheinend immer noch von Mal zu Mal größer. Er gab der Aufführung endlosen Atem, nie erlahmende Spannung, die Musiker und Hörer unentrinnbar fesselte, eine ungeheure Spannweite von kaum je erlebtem Zeit und Ruhe lassen, vom Zurücknehmen fast ins Unhörbare zu unerhörten Steigerungen, schnellen, doch niemals gehetzt wirkenden Tempi, die Musiker und Sänger nicht in Not brachten, und zu dramatischen Höhepunkten, die nie mozartisches Ebenmaß verletzten, nicht forciert und doch gewaltig waren. Das Orchester zeigte sich des großen Dirigenten würdig, es spielte so konzentriert, so hingegeben und so vollkommen schön, daß kein Orchester der Welt es übertreffen könnte.

Schöner als Margaret Price singt heute wohl niemand die Gräfin. Die ruhig und reich strömende, wunderbar leuchtende Stimme wird technisch und musikalisch vollkommen geführt. Mag sein, daß - vor allem - die erste Arie ein wenig stabil geriet, aber das ging nicht auf Kosten des Ausdrucks; auch ist diese Gräfin in ihrem Wesen und in ihrer Erscheinung nicht eben schwächlich: sie ist eine starke Frau, die ihren Mann steht und die auch starke Gemütsbewegungen nicht zum Schwanken bringen. Ihrem Typ und ihrer Stimme entsprach auch ihr durchaus überzeugendes Spiel. Susanne war Edith Mathis, keck und schüchtern, sehr reizend und sehr schön singend, vielleicht im Brief-Duett nicht ganz die richtige Partnerin für die übermächtige Price. Brigitte Fassbaender gab sehr erheiternd den tapsigen und doch recht charmanten kleinen Don Juan Cherubino und sang auch sehr gut. Dietrich Fischer-Dieskau war der noble, in Spiel und Gesang gleich großartige Graf. Immer wieder bewundert man, wie bei ihm der Gesang, so herrlich er sein mag, überhaupt keine Verfremdung, keine Abstraktion vom Leben weg darstellt, sondern eine so natürliche selbstverständliche Äußerung ist wie das gesprochene Wort. Für den erkrankten Hermann Prey sprang als Figaro Walter Berry ein, ein Ersatz, über den wohl niemand traurig war. Berry erwies sich wieder als unübertrefflicher Figaro: wendig, herzhaft und souverän, sein schöner, beweglicher und ausdrucksmächtiger Baß scheint für diese Baßrolle wie geschaffen.

Großes Vergnügen hatte man auch an den kleineren Rollen: dem wichtigtuerischen Bartolo Benno Kusche, der unerwartet komischen Marzelline Gudrun Wewezow (als Figaros Mutter erscheint sie allerdings recht jung), dem umwerfenden Basilio David Thaw, dem beschwipsten Gärtner Alois Pernerstorfer, an Friedrich Lenz als schönstimmigem Richter und an der Barbarina Marianne Seibel, die mir allerdings in anderen Rollen schon besser gefallen hat.

Hans Huber

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