Zur Oper am 14. Juli 1977 in München


  tz, München, 16. Juli 1977

Fast die Welt angehalten

Böhms "Figaro" - das ist gar kein Theaterabend mehr, das ist ein Zustand, in dem man leben kann.

Eine Besetzung zum Atem-Anhalten: Fischer-Dieskaus Graf mit einem riesigen menschlichen Spektrum, in dem sogar Platz ist für jungenhafte Kalberei, Margaret Price, die die Gräfin mit dem weichen Schimmer ihres unvergleichlichen Soprans versieht - ich glaube, es gibt zur Zeit keinen schöneren. Im Briefduett klingt die Stimme mit der etwas leichteren, silbrigen von Edith Mathis fast überirdisch herrlich zusammen. Dazu der dunkle, stürmische Cherubin von Brigitte Fassbaender und Walter Berry als spielgewitzter Figaro.

Und eben Karl Böhm, der dieser Inszenierung (eine von Rennerts besten, aber eben längst nicht mehr taufrisch, nicht mehr in jeder Geste logisch und präzis) s e i n e n Stempel aufdrückt. Im großen ersten Finale baut er knisternde Spannung auf. Man vergißt, daß man doch längst weiß, wie’s weitergeht. Böhms Figuren sind so lebendig, daß man ihnen auch jede andere Regung zutrauen würde. Und in den drei Pianissimo-Takten vorm endgültigen Schluß kann er mit seiner Ruhe und einem ganz leichten Ernst fast die Welt anhalten.

Langer, langer Applaus von Leuten, die genau wußten, warum sie gerade hierher gekommen waren.

B. K.


    

     "Oper und Konzert", München, 8/1977     

Nationaltheater

Figaros Hochzeit

    

"VIVAT BÖHM!" - der Beifall für die Sänger war verklungen, das Publikum harrte des vierten Bildes: da drückte dies "Vivat Böhm!" eines Enthusiasten aus, was alle fühlten - Bewunderung und Dankbarkeit für den großen Musiker am Pult, der uns behutsam zärtlich, feurig und temperamentvoll durch Mozarts Gefilde leitete, wissend um Freud’ und Leid in dieser comédie humaine. Man müßte jede "Nummer" zu beschreiben versuchen, um diese Interpretation zu würdigen, soweit es in Worten überhaupt möglich ist. Streiflichter: Karl Böhms natürlicher Sinn fürs "Richtige" hält ihn vor jeder Übertreibung zurück, von allem, was nach "Auffassung" schmeckt. Darf man sagen, daß die Vollkommenheit einen zuweilen glauben läßt, hier töne nur noch die Musik - vergessend ihrer Mittler? Unser Bayer. Staatsorchester entfaltet hingabebereit, inspiriert, seine Möglichkeiten und es musiziert wie die Wiener Philharmoniker, wenn sie einen besonders guten Abend haben: weiche Holzbläser, ein glanzvoller gefühlsreicher Ton in allen Streichern, ein elegantes Blech, alle aufeinander hörend und auf die Bühne, nicht ein Takt in verwaschenem Mezzoforte, ein gehaltvolles Piano, kein Säuseln, ein rundes saftiges Forte, und alle Zwischentönungen. Karl Böhm kann die Musiker bewegen, auch bei den bewegtesten Tempi von Note zu Note vollkommen die Dynamik zu ändern (Sforzati in der Ouvertüre!), alle sind, um einen abgegriffenen Slogan zu gebrauchen, "Ein Herz und eine Seele": einfühlsamer kann man das Briefduett nicht mehr begleiten. Welche Ruhe gönnt Karl Böhm der Seele: die zwei das Rezitativ der "Rosen-Arie" abschließenden Akkorde werden zum Ereignis - und welches Feuer entfacht er im letzten D-Dur-Finalteil, in das er in einer Spannung ohnegleichen aus dem Atemanhalten aller unter dem nächtlichen Parkhimmel Versammelten überleitet. Wie witzig die Hörner bei Figaros Es-Dur-Arie, wie beladen vom Abglanz des Leidens die Holzbläser bei "Dove sono", wie überzeugend die überraschend langsame F-Dur-Cavatine Figaros: Professor Böhm lehrt, daß Revolution kein Allegro-Problem ist - und wie sinnlich der spanische Hochzeitstanz... Immer durchströmt menschliche Empfindung das musikalische Geschehen, alles ist durchsichtig ohne das Geheimnis preiszugeben, es gibt keine Schnörkel, keinen Bombast, keinen klangfetischistischen Ästhetizismus, keine geistwidrige "Sachlichkeit", sondern Mozarts Wahrheit, zuweilen bestürzend, immer beseligend. Vivat Böhm!

Von der Modellaufführung durch Günther Rennert ist szenisch nur ein Torso mehr übrig; aber wenn auch das Ensemble nicht mehr nach Rennerts Buchstaben spielt, so doch in Mozarts Geist. Und natürlich setzen so große Persönlichkeiten wie etwa Walter Berry andere Akzente; aber wer freut sich nicht über diesen pfiffig verschmitzten Burschen, der sicher nicht zum Raufbold wird bei der Aristokratenhetz 1789, sondern soziale Probleme bei einem Viertele löst, nicht auf den Stufen zur Guillotine? Sein Baßbariton scheint mir für Figaro ideal, seine Erfahrung, seine Gesangstechnik ermöglichen ihm eine wahrhaft virtuose Realisierung von Mozarts Musik. Seine Susanna ist mit Edith Mathis gesanglich optimal besetzt, wunderschön leuchtet die Stimme in Arien und in der obersten Linie der Ensembles; ein Schuß Temperament, ein paar Tropfen Blutes von Zofe und Colombina wären vielleicht kein Überfluß. Brigitte Fassbaender ist in Erscheinung und Stimme schon jenseits der Schwelle, auf die Cherubin erst den Fuß setzt, der Page könnte schon die Erfahrungen Oktavians gemacht haben ... Ephebenzauber ersetzt Frau Fassbaender allerdings sehr geschickt durch einen Hauch von Komik, die pubertäre Staksigkeit wird bewußt betont, liebenswürdig tolpatschig erscheint sie in der doppelten Travestie der Mädchenkleider, doch offen bleibt, warum sich die Damen im Schlosse der erotischen Faszination Cherubins kaum entziehen können; nach der Cavatine verstand man immerhin die Zuneigung von Susanna und der Gräfin, war sie doch eine musikalische Köstlichkeit.

Gram zehrt nicht immer. In unserem optischen Zeitalter sollte die Gräfin doch etwas schlanker sein (oder der Kostümbildner einfallsreicher, wie kann man eine Künstlerin im Range von Margaret Price so plump anziehen?) - aber selbst im Parkbild vergißt man die illusionsstörende Erscheinung, wenn Frau Price zu singen anhebt, mit einem der kostbarsten Mozartsoprane, die es heute gibt. Klanglich schöner kann man die Contessa sicher nicht singen, vielleicht raffinierter. Hierin ist Il Conte Meister: was Dietrich Fischer-Dieskau noch aus dem geringfügigsten Parlandosätzchen an Ausdruck gewinnt, ist immer wieder neu faszinierend. Und keiner singt die große Arie so wie er als ein hochdramatisch-farbiges Selbstportrait.

Wie sehr Karl Böhms Direktion Wunder im Detail bewirkt, war auch in den Nebenrollen zu bemerken. Gudrun Wewezow, in dieser Zeitschrift oft zerzaust, sang weit vorsichtiger als sonst, erfüllte die melodische Wendung im Sextett, in der sie sich Susanna zu erkennen gibt, mit Zuneigung und Herzlichkeit, die Zustimmung Marcellinas auf Susannas Frage "Wer ist so glücklich wie ich?" war sogar eine Delikatesse. Köstlich wieder David Thaw als gichtiger/giftiger Basilio, Benno Kusche als Bartolo, Alois Pernerstorfer als Antonio, und Marianne Seibel ein Kompliment für ihre reizende Barberina.

Dr. Klaus Adam

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