Zum Liederabend am 26. Oktober 1977 in Wiesbaden


    

     Wiesbadener Tagblatt, 28. Oktober 1977     

Fischer-Dieskaus schön gesungene Schlichtheit

Schuberts "Winterreise" beim 3. Wolfgang-Meisterkonzert im Wiesbadener Kurhaus

     

Wir haben Dietrich Fischer-Dieskau einige Jahre hier nicht gehört. Mit der "Winterreise" stellt sich im 3. Wolfgang-Meisterkonzert ein gewandelter Sänger vor. Schon äußerlich – schlanker, mit angegrautem Haar, weniger steif beim Singen selbst -, vor allem aber interpretatorisch. Gerade die "Winterreise" scheint hierfür ein besonders eindringlicher Beleg sein zu können – denn sie war es jeweils, die Signale setzte: beim ganz jungen, als Sensation empfundenen Bariton vor gut einem Vierteljahrhundert, dann bei dem hochberühmten Liedermeister, der durchaus Gefahren von Manierismus und Übersteigerung zu bekämpfen hatte. Und nun eine neue Wende, hin zu einem ganz einfachen Stil, zum Ausgleich von Lyrik und Dramatik in einer stellenweise fast beklemmenden Souveränität, hin zur durchaus schön gesungenen Schlichtheit, mit der die Balance zwischen Belcanto und Deklamation eine spezifische Vollendung erfährt.

Schon das erste Lied – "Fremd bin ich eingezogen" – läßt diesen neuen Fischer-Dieskau in nuce erfahren: ganz locker, erzählend, wie nebenbei parlierend, hebt der Vortrag an, sofort in faszinierende Erinnerungs-Beschwörung umschlagend, wenn die – melodische – Wiederholung der ersten vier Takte dynamisch zurückgenommen wird, das Legato der nächsten Phrase nochmals verhaltener erklingt – "das Mädchen sprach von Liebe...", um dann milde Resignation walten zu lassen. Wie danach der Dur-Teil (C-Dur nach c-Moll) im dreifachen Pianissimo anhebt, verschlägt es den Atem mit ergreifend einfacher Stille eines instrumental geführten Singens: "Will dich im Traum nicht stören", als wundersam traurige Innerlichkeit.

Wie hier Schubert ausgedeutet ist – musikalisch mit jeder harmonischen Wende, in jedem rhythmischen Agens und minimalen dynamischen Nuancierungen – macht es heute niemand Fischer-Dieskau gleich. Alles, was er und wie er interpretiert, scheint vom Kopf gesteuert zu sein, weil es so musik-logisch erscheint, daß Einwände zwar möglich sein könnten, aber besseren Argumenten weichen müßten. Doch es steckt mehr in diesem so klugen Vortrag der "Winterreise": ein leidenschaftlich erfülltes, ein emotional engagiertes, wenn auch nicht vordergründig effektreiches Gestalten eines Seelen-Porträts. Der Zyklus wird mehr denn je als eine in sich geschlossene Einheit, als eine Art Roman einer Rückbesinnung gesehen.

Ein zarter Schleier jenes Vergangen-Bewußtseins bestimmt die Wiedergabe atmosphärisch zwingend. In jedem Lied ließ es sich mit Varianten darlegen oder analysieren. Mit szenischem Aufbau, mit dramatischen Crescendi, mit immer wieder fesselnden Decrescendi und unnachahmlicher Wort-Ausdeutung durch eine unwahrscheinlich beherrschte Stimme und Stimmführung. Uns bewegt das bewußt Introvertierte, als hielte der Sänger ein Selbstgespräch, spräche nur in Gedanken so vor sich hin, weltverloren, zwischen Verklärung, Seligkeit und Bitternis oder Schmerz wechselnd. So lernten wir den "Lindenbaum" neu kennen – ganz langsam und nach innen oder fast "beiseite" gesungen – und dabei gleichsam raffnierte Einfachheit zum Erlebnis steigernd.

Oder greifen wir das Stockende, das Verzweifelnde des 7. Liedes – "Auf dem Flusse" –mit trockenen Staccati und fast hämischem "der du so lustig rauschest" heraus: wie da ein Bild entsteht, das eine seelische Situation schildert. Oder das Wütende, das Ringende, das Aufbäumende im "Rückblick", das schon philosophisch gesungene "Irrlicht" mit der kritisch-melancholischen Erkennntnis: "alles eines Irrlichts Spiel". Auch die zu fast wagnerischer Deklamation getriebene "Rast" mit dem herausgehobenen "heißen Stich" und die erschütternd ausgesungene Frage "an den Fensterscheiben, wer malte die Blätter da" im "Frühlingstraum" und das böse "da ward mein Herze wach": keine Zeile, kein Wort, das nicht in seiner oder wenigstens einer Bedeutung genannt, vermittelt wäre. Nie wird bei Fischer-Dieskau nur gesungen.

Da wird "Einsamkeit" mit milder Ironie umspielt und in der "Post" die bange Frage "mein Herz" in immer neue Schattierungen gestellt, der "Greise Kopf" schauerlich gespenstisch gemalt, von der "Krähe" anscheinend harmlos geplaudert, doch bald fast grausam in die Bitterkeit steigernd, von der "letzten Hoffnung" fast sprechend nur berichtet, eine "Dorf"-Szene plastisch und kräftig, wild, doch exakt nachgezeichnet, mit manchmal regelrecht "bissiger" Stimmfarbe. Ein weiterer Höhepunkt im Zyklus: "Der Wegweiser", relativ schnell im Tempo, ängstlich fast, fahl-farblos und hell ansetzend, trocken-abwesend und dadurch, also durch den konsequenten Verzicht auf Sentimentalismen, doppelt beeindruckend als Signum einer Einfachheit. Wie das "habe ja doch nichts begangen" minimal akzentuiert wird, ist es ein beklemmendes Moment, mit dem auch belegt sein kann, daß hier nicht nur ein perfekter Interpret am Werke ist, sondern ein Mensch vor uns steht. So dankt man Fischer-Dieskau auch, daß er uns nicht als Schallplatten-Besinger ein Begriff bleibt, sondern das Unmittelbare als das noch größere Ereignis Wirklichkeit werden läßt.

Aufbegehrend, protestierend fast sang Fischer-Dieskau "Mut", zuvor fast ergeben lächelnd "Das Wirtshaus" mit einem von der Stimme her suggerierten "Niedersinken", die "Nebensonnen" sehr traurig-verhalten. Und "Der Leiermann" schließlich: nochmals als Rückschau auf ein Leben, mit den letzten Fragen, das "Drehen" des "Leierkastens" melodisch und rhythmisch imitierend bis zum schließenden noch einmal prüfend insistierenden "deine Leier drehn?" Lange in uns nachklingend aber mehr jene – die Antwort durch die Interpretation einschließende – Frage "wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?" Hier wurde deutlich, daß dieser Lied-Deuter uns Schubert fast unerwartet nah zu bringen wußte. Analog sehr wohl zu seinem großartigen Schubert-Lieder-Buch bei Brockhaus.

Dank an Fischer-Dieskau, daß er keine Zugaben dem pausenlos vorgetragenen Zyklus anhing – wir wüßten keines, das er da noch hätte wählen können. Am Flügel: Günther Weißenborn, der in den Stimmungen und Farben dem Sänger wesensnahe Musiker, der – etwa in "Gefrorene Tränen" die halben Noten so nachdenklich schön anschlagend, die letzten Noten eines Liedes jeweils nachhallend abtönend, überhaupt nicht prätentiös aufspielend – dem Sänger profilierend zur Seite stand. Kleine Unebenheiten ließen sich da gern überhören. Viel Beifall, lang anhaltend.

v. L.

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     Wiesbadener Kurier, 28. Oktober 1977     

Die dunkle Hinterlassenschaft eines reisenden Waldhornisten

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise"

   

Mitten im schönen Herbst ’77 begibt sich Dietrich Fischer-Dieskau auf die "Winterreise". Man könnte fragen: Hat er es nötig, ausgerechnet Schuberts allbekannten späten Zyklus mit auf Tournee zu nehmen? Möchte man von ihm nicht viel lieber Wolf-Lieder hören oder die großen Monodien Schuberts, an die sich sonst niemand traut? Die Antwort nach diesem dritten Meisterkonzert der Direktion Wolfgang, das den großen Schubert-Interpreten und schließlich auch bedeutenden Schubert-Autor ins Kurhaus brachte, fällt überraschend leicht. Nicht Fischer-Dieskau hat es nötig, die "Winterreise" zu singen, sondern die "Winterreise" bedarf durchaus der kompromißlos ernsthaften Interpretation durch diesen Sänger, der eben nicht nur Stimme und Technik, interpretatorische Intuition und Erfahrung einbringt, sondern auch die nachdrückliche Beschäftigung mit biographischen Details und kompositorischen Einzelheiten. Da entsteht der Liedzyklus gewissermaßen abseits des üblichen Konzertbetriebs; da werden Maßstäbe gesetzt. Maßstäbe übrigens, die sicher lange Zeit Geltung haben werden. Denn welcher Sänger kann es sich schon leisten, einem einzigen Komponisten einen solchen Aufwand an Arbeit zu widmen, wie ihn Fischer-Dieskau im Zusammenhang mit seiner Schallplatten-Edition betrieb?

Die "Winterreise" spricht eine dunkle Sprache. Dem Dichter Wilhelm Müller scheint die Ironie vergangen, die noch den ersten Teil der "Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten" bestimmte. Dieser erste Teil, "im Winter zu lesen", hatte schließlich noch einen Prolog, der es an Deutlichkeit der parodistischen Absicht nicht fehlen ließ:

"Ich lad’ Euch, schöne Damen, kluge Herren,
und die Ihr hört und schaut was Gutes gern,
zu einem funkelnagelneuen Spiel
im allerfunkelnagelneuesten Stil".

Das hatte alles noch der literarischen Mode der Volkslied-Melancholie gegolten, wenngleich es Schubert nicht allzu schwer fiel, aus Gedichten dieses ersten Teils der hinterlassenen Papiere seine ganz und gar nicht ironische "Schöne Müllerin" zu komponieren. Müllers Vermögen, durch die Sprache eine durchgehende Distanz zu schaffen, war eben nicht so weit entwickelt wie die Kunst Heines, als dieser in seinem "Lyrischen Intermezzo" ähnliche Absichten verfolgte, die dann in Schumanns "Dichterliebe" auch den entsprechenden Widerhall in einer hochentwickelten kompositorischen Ironie fanden. (Heine widmete das "Intermezzo" übrigens Wilhelm Müller).

Im zweiten Teil der "hinterlassenen Papiere eines Waldhornisten" ist die Parodie dann kaum noch auszumachen, allenfalls die Schlichtheit der Reime und eine gewisse Banalität der Bilder lassen darauf schließen – damals, in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, waren die Sprachbilder der Poeten schon viel facettenreicher, stärker gebrochen. Aber die Metaphern Müllers haben – zumal für uns Nachgeborene – eine eigenartige Kraft des Einfachen, und diese war es wohl auch, die Schubert faszinierte. Die "Winterreise" hat Libretto-Qualitäten; der Liederzyklus fügt sich um so leichter zum Monodrama.

Als Monodrama führt Dietrich Fischer-Dieskau denn auch den Zyklus auf. Ohne Pause folgt er dem Ablauf der 25 Lieder, die im Gegensatz zu den Stationen der "Schönen Müllerin" freilich fast völlig der novellistischen Zutaten entbehren, keine Geschichte mehr andeuten, sondern anhand der Bilder den inneren Prozeß hervorkehren. Es ist nun unverhüllt nur noch die Wanderschaft zum Tode hin, das Grundthema des Schubertschen Oeuvres; der Rhythmus des Wanderns ist denn auch wiederholt durchbrochen, und in diesen Augenblicken, so in "Irrlicht" oder "Die Krähe", scheint alles stehen zu bleiben, treten die Leerstellen der Musik hervor, die atemlosen Pausen in der zerrissenen Struktur.

Schon zu Beginn des "Zyklus" zeigt Fischer-Dieskau, wie ernst es ihm mit dieser Liederfolge ist. "Mäßig, in gehender Bewegung" steht über dem ersten Lied "Gute Nacht". Aber aus dem Andante macht Fischer-Dieskau gleich ein Andante con moto. Der Sänger läßt an seinen Beweg-Gründen keinen Zweifel. "Fremd bin ich eingezogen" – das ist nur noch vorbeiziehende Erinnerung. Von da an bleibt die Organisation der Tempi stets gleich zwingend, bestimmt vom dramatischen Ablauf des Zyklus, nicht von persönlichen Vorlieben für die isolierten Schönheiten der einen oder anderen Nummer.

Desgleichen wird die Behandlung der Details nur vom Gesamtwerk her verständlich. Zunächst fasziniert wieder die ungewöhnlich reiche Ausdrucksskala, die sich Fischer-Dieskau bewahrt hat, wobei sich die Neigung zum Überpointieren offenbar wieder ein wenig legte. Der gestandene Bariton müßte von Rechts wegen ja Schwierigkeiten mit einem Zyklus haben, der eigentlich für einen jungen, hohen Tenor gedacht ist. Der "Schönen Müllerin" und der "Winterreise" geht es da nicht anders als der Marschallin in Straussens "Rosenkavalier" und Wagners "Siegfried" – sie werden fast immer von Leuten gesungen, die längst in die Jahre gekommen sind. Aber dann bringt Fischer-Dieskau plötzlich einen Ton ins Spiel, einen fast vibratofreien, ganz reinen und lyrisch-tenoral wirkenden Stimmklang, von dessen Atemstütze man so wenig spürt, daß das Idealbild des Schubert-Interpreten aufscheint; das Bild des jungen Liebhabersängers, der romantischen Bürgerseele, die im Lied zu sich selbst kommt. Zugleich zeigt sich in solchen Augenblicken ein Lontano-Effekt: alles scheint weit entfernt, wie Erinnerung. Fischer-Dieskau kann dabei bis zu entlegenen Piano-Wirkungen gehen, ohne daß die Stimme an Klang einbüßte, die Frequenzen des Flüsterns den Ton zu überlagern beginnen oder gar das Wort unverständlich würde. Immer wieder vollzieht er diesen Rückzug nach innen; immer wieder unterbricht er ihn freilich auch durch dramatische Crescendi, in denen allein man bisweilen spürt, wieviele Strapazen diese Stimme bereits schadlos überstanden hat. Die Steigerungen sind machmal eine Spur zu nachdrücklich; der Gesang gerät eine Nuance zu hoch. Innerhalb des Zyklus freilich wirkt auch das als konsequentes dramatisches Mittel: es sind Augenblicke unverhüllter Erregung.

Bei aller Kunstfertigkeit, bei aller Konsequenz, mit der Fischer-Dieskau die Formenwelt und den Ausdruck dieses Lied-Zyklus’ neu gestaltet und dabei eng mit- einander verzahnt – so ganz frei ist er nicht von Gewohnheiten der Tradition, wobei der "Lindenbaum" vielleicht noch am ehesten der Revision bedürfte. Andererseits kann man den Schmelz dieser noch in den Verzierungen ganz leicht beweglichen Stimme, die artifizielle Sprach- und Tonbehandlung in solchen Liedern wie "GefroreneTränen" oder "Auf dem Flusse", in denen Fischer-Dieskau den Impuls-Charakter des Klaviertons im Gesang aufnimmt, nur bewundern. Wie er in den letzten Liedern das Legato nuanciert, von dem mezza voce gesungenen "Wirtshaus" zu der Choralweise der dritten Strophe der "Nebensonnen" findet und schließlich den "Leiermann" zur resignierenden Volksweise macht, zu einem Lied, das aus uralter Zeit auf uns gekommen scheint – das alles trägt zu dem wahren Rang dieser Interpretation bei.

Beeinträchtigt wurde dieser nicht einmal vom Klavierspiel Günther Weissenborns. Weissenborn war an diesem Abend ein äußerst erfahrener Begleiter – mehr nicht. Fischer-Dieskau braucht und findet freilich schon lange andere Partner, die den Klaviersatz Schuberts nicht so oft im Ungefähr belassen, sondern ihm Ton für Ton Bedeutung geben. Die dramatischen Grundstimmungen, den dunklen, vollen Ton trifft Weissenborn gewiß, und seine Anschlagskunst ist unbestritten. Aber das reicht nicht für Abende, in denen das Klavier zur Sprache finden müßte. Langer Beifall.

Norbert Ely

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