Zum Konzert am 12. April 1978 in Berlin


Die Welt, Berlin-West, 14. April 1978

Lutoslawski in der Philharmonie

Lutoslawski-Uraufführung mit Dietrich Fischer-Dieskau

In den Räumen des Schlafes

Die Zeiten sind längst vorbei, wo die Komponisten Polens zur internationalen Avantgardszene kräftige, ganz persönliche und deshalb um so wichtigere Töne beisteuerten. Nur noch gelegentlich bekommt man auf den arrivierten Festivals der neuen Musik von ihnen etwas Neues zu hören.

Um so gespannter durfte man sein, beim Konzert der Reihe "Musik des 20. Jahrhunderts" Witold Lutoslawski, Polens Senior-Avantgardisten, nicht nur als Interpreten in eigener Sache zu erleben, sondern von ihm auch nach langer Pause endlich wieder einmal eine nagelneue Partitur kennenzulernen.

So ganz frisch ist die Partitur von "Les espaces du sommeil" allerdings eigentlich nicht mehr. Fertig war sie schon 1975. Daß sie erst drei Jahre später ihre Premiere haben konnte, liegt an Dietrich Fischer-Dieskau. Er war der Anreger für das neue Werk, ihm hat Lutoslawski es auf den Leib, richtiger gesagt auf die Stimme geschrieben. Nur er sollte es aus der Taufe heben. Ein Wunsch, der sich wegen Dieskaus übervollem Terminkalender erst jetzt verwirklichen ließ.

Dieskau, dem es von Lutoslawski aufgegeben ist, zu deklamieren, zu rezitieren, sich Sprechgesangs oder hymnischer Kantabilität zu befleißigen, durchmaß alle diese Ausdrucksbereiche mit jener stimmlichen Souveränität und geistigen Überlegenheit, wie man sie von ihm gewohnt ist.

So kam Lutoslawskis Vertonung eines Gedichtes des Franzosen Robert Desnos zur vollen sinnlichen Wirkung.

Grundsätzlich Neues in Lutoslawskis Schreibweise ist zwar nicht zu entdecken. Was seine immense Phantasie jedoch an aparten, meist sehr zartfarbigen und nur gegen Schluß sich grell und bizarr hochreckenden Klängen ins Spiel bringt, hat Dichte, Gespanntheit und Vielfalt in jedem musikalischen Augenblick. Trotz eines raffinierten gedanklichen Kalküls, das dahintersteckt, teilt sich diese Vertonung der "Räume des Schlafes" unverstellt mit, und so war der Erfolg dafür denn auch einhellig und groß, fast überschwenglich.

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Wolfgang Schultze

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     Berliner Morgenpost, 14. April 1978     

Bariton mit Zeitzünder: Dietrich Fischer-Dieskau

Lutoslawski-Uraufführung bei den Philharmonikern

   

Das Beste an den Franzosen ist ihr "Impressionismus", schien sich Witold Lutoslawski zu sagen. Also griff er zur Palette eines diffusen Nach-Debussyismus und pinselte ein schillerndes, atmosphärisch-fluktuierendes Tongemälde zusammen, das einen Text des französischen Dichters Robert Desnos auf durchaus konventionelle Art ausdeutet.

Etwas Französisches sollte es sein, weil der polnische Komponist Lutoslawski ein Stück für Dietrich Fischer-Dieskau anfertigen sollte und dieser deutsche Bariton das Französische "wie ein Franzose" ausspreche.

Ob seine Aussprache tatsächlich so makellos war, würde ein Franzose sicher besser beurteilen können. Unzweifelhaft aber war, daß die Uraufführung von "Les Espaces du Sommeil" im fünften Konzert der Reihe "Musik des 20. Jahrhunderts" durch die Philharmoniker unter der Stabführung des Komponisten den Eindruck höchst kompetenter Interpretation hinterließ.

Für Fischer-Dieskau gab es eine Fülle von Gelegenheiten, einige seiner bestechendsten künstlerischen Tugenden zur Geltung zu bringen, vor allem seine immer wieder zu rühmende Diskretion im Umgang mit spannungserzeugenden Mitteln, also mit einer gestauten Verhaltenheit, hinter der die Explosivität ständig wie ein Zeitzünder zu lauern scheint.

Fast als selbstverständlich mochte man deshalb die Publikumszustimmung der gut besuchten Philharmonie hinnehmen, die einem Werk galt, das wohl nicht zu den inspiriertesten des polnischen Avantgarde-Meisters zählt, aber sich doch durch die unverwechselbare Gediegenheit seines Formbewußtseins auszeichnet.

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Wilfried W. Bruchhäuser


   

     Der Tagesspiegel, Berlin, 14. April 1978     

Leben in der Nacht

Lutoslawski mit den Philharmonikern – "Siegfried" in der Oper

    

Witold Lutoslawski, der heute 65jährige polnische Komponist, ist zweifellos neben Penderecki und Serocki die herausragende Persönlichkeit der polnischen Avantgardeszene. Einst in den fünfziger Jahren durch seine "Trauermusik für Streichorchester" mit einem Schlag international berühmt geworden, ist Lutoslawski, wie sein Kompositionsabend in der Philharmonie und mit den Philharmonikern bewies, jung geblieben. Nicht nur als Dirigent. Denn es kann nicht geleugnet werden, daß Lutoslawski seine Kompositionen mit einer ganz eigenen, Bestimmtheit und Eleganz glücklich verbindenden Manier anging und den Philharmonikern ein Maximum an Konzentration und Engagement abverlangte. Die Werke selbst, Arbeiten aus den sechziger Jahren, "Jeux vénitiens" (1961), Symphonie Nr. II (1960), und das uraufgeführte großkonzipierte "Les espaces du sommeil" – Die Räume des Schlafes – für Bariton und Orchester, bestätigten erneut den geistigen Rang Lutoslawskis.

In "Les espaces du sommeil", das sich weitgehend den rhetorischen Zäsuren des Gedichtes von Robert Desnos anschmiegt – der französische Dichter verstarb wenige Wochen nach seiner Befreiung im Juni 1945 im KZ Theresienstadt -, arbeitete Lutoslawski mit der kompositorischen Palette des heute Möglichen. Einerseits finden sich ungemein sensibel ausgearbeitete Klangfarbenfelder, Streichervorhänge zumal, andererseits verzichtet Lutoslawski auch hier nicht auf typische Wirkungen gelenkten Zufalls, auf aleatorische Strukturen. Die Singstimme aber enthält sich aller modischen, nur virtuosen Arabesken und wird mit einer Bestimmtheit geführt, die an die besten französischen Traditionen erinnert: an Debussy, auch an Milhaud. Das Gedicht ist ein Nachtstück. Desnos beschreibt die Geräusche, das Leben der Nacht und in der Nacht. Aber mehr und mehr wird die Beschreibung fixiert durch den mehrfach wie ein Leitmotiv erscheinenden Gedanken: Il y a toi, es gibt dich. Und im letzten Drittel nach mehrfachen Zäsuren bricht es noch aus in einen Wortwirbel aus Zärtlichkeit und Verzweiflung, dem auch Lutoslawski in großen Orchesterausbrüchen folgt. Dietrich Fischer-Dieskau, der die Komposition anregte, gab der staunenswert leichtfüßigen, eleganten Partitur allen Charme und allen Ernst seiner souveränen sängerischen Rhetorik. Der Beifall für beide, für den Sänger und den Komponisten, war lang anhaltend und überaus herzlich.

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Wolfgang Burde


   

     Der Abend, Berlin-West, 14. April 1978     

Lutoslawski in der Philharmonie

    

Auch 33 Jahre nach Kriegsende hat es noch immer moralisches Gewicht, wenn ein polnischer Künstler vor deutsches Publikum tritt. Witold Lutoslawski gehört zu der Intelligenzschicht, deren systematische Ausrottung Hitler betrieb, um Polen in ein dumpfes Agrarland zu verwandeln. Das Konzert des Komponisten ist eine Geste der Versöhnung.

Lutoslawski erinnert mit seinem Leidenszug im bleichen Antlitz an den späteren Bartok, dem er auch eine Trauermusik gewidmet hat. Er hat etwas von einem feinsinnigen alten Diplomaten an sich. Er könnte Rosen züchten im Garten der Botschaft und Baudelaire übersetzen in seinen Mußestunden. Er ist eine Erscheinung von leuchtender Noblesse.

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Als Dirigent erhitzt sich Lutoslawski nicht an seiner Musik. Er kopiert nicht die Posen der Profis. Er gibt knappe Einsätze, unterstreicht Akzente, koordiniert und stoppt. Oft steht er reglos und lenkt nur mit der Kraft der Persönlichkeit das Philharmonische Rassepferd.

Zentrales Ereignis des Abends ist eine Uraufführung. Die Begegnung mit Fischer-Dieskau hat den Komponisten zur Vertonung der Traumdichtung "Die Räume des Schlafes" angeregt. Vor großbesetztem aber nie straussisch hochschwappendem Orchester singt der Bariton die Texte wie im Halbdämmer. Er raunt, er ruft mit bleierner Stimme, er schrickt hoch und taumelt immer wieder zurück in die Schächte des Schlafes. Fischer-Dieskau beherrscht Partitur und Publikum mit sparsamsten Mitteln.

Die Wahl dieser sensiblen Gespinste ist kein Zufall. Der französische Dichter Robert Desnos kam um im deutschen KZ. Die Musik des überlebenden Polen mahnt uns: So etwas darf nie wieder geschehen. Nie wieder.

C. B. M.

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