Zum Liederabend am 29. April 1978 in Stuttgart


    

     Stuttgarter Zeitung, 2. Mai 1978     

Eislandschaft

Fischer-Dieskau in Stuttgart

     

Keine sängerische Entwicklung ist lückenloser durch Schallplatten belegt als jene Dietrich Fischer-Dieskaus; keiner wird unnachsichtiger an sich selbst gemessen als er. Mit Franz Schuberts "Winterreise" genügte er im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle einmal mehr diesem höchsten Maßstab. Fischer-Dieskaus gestalterischer Umgang mit Liedern, zumal romantischen, zeichnet den Weg des interpretierenden Bewußtseins aus poetischer Unmittelbarkeit in die Prosa. Vor dem Hintergrund der frühen "Winterreise"-Aufnahme, die Gerald Moore begleitete, setzte der Liederabend dem Stilwandel einen weit entfernten Markstein. Das Ich, welches da die Eislandschaft seiner Seele besang, war nicht – wie damals – unmittelbar leidendes. Absolute Verinnerlichung vielmehr hat den Grundzug der "Erinnerung" hinzugewonnen.

Das mitteilsame Wissen um die aberwitzige Zerklüftung des Werks ließ dessen schizoide Struktur jedoch nicht zum harmlosen Konversations- und Konzertgegenstand werden. Der weitgehende Verzicht auf Pausen zwischen Liedern unterschiedenen Emotionscharakters schon hielt dem Zyklus Anflüge verharmlosender Nummernfolge fern. Nachdem es aber, vom "stürmischen Morgen" an, bis zum letzten Lied, nach dem Gesetz wechselsüchtigen inneren Monologisierens pausenlos fortgegangen war, erfüllte sich das Gesetz nicht etwa im unendlich fortklingenden Erstarren, Verstummen des wunderlichen Leiermanns. Der erzählerische Abstand, Fischer-Dieskaus Bewußtheitsgrad, brachte statt dessen die "Winterreise" ganz als eine abgeschlossene, überwundene zum Abschluß.

Solcher Grad von Bewußtheit allein kann einem abgesungenen Lied wie dem "Lindenbaum" die Funktion geradezu des Spiegels aufbürden, in welchem die Elemente der gesamten Deutung sich begegnen: die Beiläufigkeit bereits, mit der das wildverwegene Herz aus Kampf und Sturm der Erinnerung unterstellt wird ("Rast"); oder das Zwiespältige des Frühlingstraums; verständnisvolle Eintracht mit dem Hörer etwa – "Ihr lacht wohl über den Träumer / Der Blumen im Winter sah..."

Die Verzweiflung des erwachenden Herzens dann in der Einhelligkeit zerbricht. Stimmschönheit, dem Ausdruck vorbehaltlos unterworfen ... Die Vielfalt und Detailgenauigkeit dieser "Winterreise" ist nur schwer beschreibbar.

Klaus-Michael Hinz

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     Stuttgarter Nachrichten, 3. Mai 1978     

Vorstufen einer Katastrophe

Fischer-Dieskau mit der "Winterreise" in der Liederhalle

   

Grob vereinfachend ließe sich sagen, daß Dietrich Fischer-Dieskau den Kunstcharakter von Franz Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise" stärker betont als den Liedcharakter. Bei seinem Gastspiel in der Liederhalle wurde er von Günter Weißenborn begleitet.

Wenn man unter zweitausend Stuttgartern im Beethovensaal der Liederhalle sitzt und zusieht, wie dieser Sänger mit einer geradezu unheimlichen Souveränität Lied um Lied in gestaltete Szenen von unfehlbarer Logik verwandelt, dann ist es müßig zu fragen, ob er bei der vierten Strophe des Eingangsliedes die erlaubte Pianosüße überschreitet oder ob die Brunnenszene am Lindenbaum wirklich den Kern einer Pastoralsinfonie enthält. Entwaffnung der kritischen Geister und die Bewunderung aller steht ja seit einem Vierteljahrhundert am Ende aller seiner Liederabende.

So geschah es auch jetzt wieder. Fischer-Dieskau sang den Zyklus ohne Pause, ließ in den Sekunden des Atemholens zwischen den vierundzwanzig Liedern nicht einmal die Halskranken im Saale zu Ton kommen und nahm den Beifallssturm nach eineinviertel Stunden und das Gedränge am Podium mit verbindlichem Schweigen entgegen: was soll er nach dem fahl-wahnsinnigen Geklimper des "Leiermanns" noch zugeben?

Fischer-Dieskau leitet die Architektur seiner Gestaltung allein aus dem Grad der seelischen Bewegung ab, die Schuberts Auseinandersetzung mit den finsteren Monologen Wilhelm Müllers provoziert. Volkstümlichkeit oder Natürlichkeit sind nicht ihre Merkmale, schon eher eine sich durch alle Vorstufen des Wahnsinns tastende Empfindlichkeit, die in jedem Lied die Vorahnung einer Katastrophe entdeckt und nur selten noch sich an die beseligende Innigkeit des Schubertschen Melos erinnern darf wie im "Frühlingstraum".

Die sängerischen Mittel Fischer-Dieskaus schmeicheln zwar das Ohr, verselbständigen sich aber nicht. Sie werden in den Dienst der Ausdrucksnuance gestellt: präzise Deklamation, eine fehlerlose Technik der Stimmführung und des Registerwechsels, ein niemals opernhaftes Forte und ein deutliches Pianissimo. Damit erreicht er ein erzählerisches Parlando in Tönen, auf das die Schatten des Unheils fallen, das Inbrunst, Resignation und Schmerz widerspiegelt.

Günter Weißenborn war dem Liederinterpreten ein Begleiter, dem er sich aus langer Gemeinsamkeit nahzu blindlings anvertrauen konnte. Nur ganz selten, beim Vorspiel zum "Lindenbaum" etwa, ließ er den Gedanken zu, ob mehr Übungszeit dieses Spiel hätte vollenden können.

Erwin Schwarz

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