Zum Liederabend am 30. September 1978 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 3. Oktober 1978     

Variationen der Stille

Fischer-Dieskau und Pollini in der Philharmonie

    

Daß Dietrich Fischer-Dieskau, seit dreißig Jahren mit Schuberts "Winterreise" verwachsen, in der Gestaltung dieses Liederzyklus kaum überbietbare Maßstäbe gesetzt hat, dürfte kein Geheimnis sein. Was Fischer-Dieskau sich in dieser Zeit an Kultivierung des Ausdrucks, Überfeinerung des Tons, Perfektionierung jedes Details, jeder Geste bis in die entlegenste Nebensilbe hinein erarbeitet hat, ist hinsichtlich der technischen Bewältigung der Schubert-Lieder ein Gewinn. Die Gefahr, die sich bei derart in die Artistik getriebener Nuancierung des Gesangs einstellt, nämlich das Übergewicht sängerischer Routine, enthält zugleich einen Verlust von Spontaneität und Frische.

Von Vollendung des Details und der Stimmkultur war sein Liederabend in der Philharmonie zusammen mit Maurizio Pollini fraglos beherrscht. Vom ersten Lied an breitete sich durchgehend eine Piano-Intensität aus, in der die dramatischen Ausbrüche seltene, wohlausgewogene Einbrüche blieben. Faszinierend die Einfühlung in die jeweilige Liedstimmung bei den Liedern, in denen die Stille der Entsagung und Gebrochenheit die Gefühlsbewegung besiegt, wie in der verhauchenden Schlußstrophe des "Lindenbaums", der "Krähe", dem Anfang des "Wirtshauses", ebenso die Resignation des "Jetzt merk’ ich erst, wie müd’ ich bin" und – vielleicht am intensivsten – die Versunkenheit in Schmerz und Todessehnsucht der "Nebensonnen".

Variationen der Stille, die bis zum Stillstand führt – dies charakterisiert jene Stimmung der "Winterreise", die, letztlich dominierend, im Lied "Der Leiermann" ihren Höhepunkt findet. Gerade dieses Lied der Erstarrung empfand ich in Fischer-Dieskaus Interpretation jedoch nicht mehr als innere Steigerung, sondern eher als matten Ausklang, exemplarisch hörbar im Schluß: das letzte Aufflackern der Verzweiflung, "Willst zu meinen Liedern", schien durch ein kunstvoll beabsichtigtes Crescendo in Distanz gerückt. Hier zeigte sich, wie die vollkommene Beherrschung der Gestaltungsmittel zum Bann wurde, der sich wie eine künstliche Glasglocke einengend über den Zyklus legte. Am enttäuschendsten mußte sich dieser hermetische Kunstgesang auf die Lieder auswirken, die aufbegehrender Widerspruch zum inneren Stillstand sind, in denen das wilde Gefühl oder das Aufglühen von Lyrik vorherrschen: in "Gute Nacht", im nahezu konventionell gesungenen "Frühlingstraum" und vor allem in dem Lied "Im Dorfe": hier sank sein rebellischer, gegen den schlafenden Spießer gerichteter "Schlußchoral", "Was will ich unter den Schläfern säumen", in ein sanftes Diminuendo zurück.

Wer die Gelegenheit hatte, zwei Tage zuvor die Rundfunkaufzeichnung des gleichen Konzerts von den Salzburger Festspielen zu hören, konnte dieses jähe Spannungsgefälle nur mit tiefem Bedauern registrieren. Bedauern vor allem hinsichtlich Maurizio Pollinis, der sich dort als großer, eigenwilliger Solist gezeigt hatte. Wie eine Schubert-Sonate hatte Pollini die Begleitung gestaltet und damit die Gleichberechtigung des Klavierparts leuchtend hervorgehoben – mit einem fast trotzigen Ausdruck beim ersten Lied, einer vibrierenden Erregtheit bei den Sturmausbrüchen und einer monumentalen Anschlagstiefe im "Wegweiser", im "Leiermann" (einzigartig sein gläsern zerspringender E-Dur-Dreiklang).

Das mitunter dominierende Spiel Pollinis hatte auch Fischer-Dieskau in jene spontane Dynamik hineingerissen, die sonst das Ideal seiner Liedgestaltung ausmacht und die dem Berliner Abend weitgehend fehlte. Pollini war hier ganz Begleiter, blieb stets zurückhaltend gedämpft, aber auch dynamisch gebremst. Von der Vielfalt seiner Anschlags- und Ausdrucksdetails war nur noch ein Schatten zu spüren, so im "Greisen Kopf", wo beim Vorspiel das Aufsteigen in den verminderten Akkord einer zuckenden Schmerz-Geste gleichgekommen war und hier nun ganz in sanfter Tongebung verhallte. Das Außergewöhnliche einer Begegnung zweier großer Solisten fiel hier der üblichen Sänger-plus-Begleiter-Konstellation zum Opfer.

Dazu trug, leider, auch das Verhalten vieler Zuhörer bei. Man fühlte sich erinnert an Curt Goetz’ Bemerkung: "Die wenigsten Leute, die erkältet sind, gehen zum Arzt – die meisten gehen ins Konzert." Für manche schienen die Lieder nur eine unwillkommene Unterbrechung ihrer Hustendarbietungen zu sein. Zweifellos eine Zumutung für zwei Interpreten vom Rang und von der Sensibilität wie Fischer-Dieskau und Pollini, wenn eine Pause zwischen zwei Pianoliedern mit einer Hustensalve ausgefüllt wird. Mir schien die Spannung des Konzerts durch diese Störungen empfindlich beeinträchtigt. Am Ende freilich: anhaltende Beifallsstürme.

Wolfgang Molkow


 

     Orpheus, 9./10. 1978     

Liederabend

Dietrich Fischer-Dieskau und Maurizio Pollini, Philharmonie 30. September 1978

     

Ein Fremder in einer von Gefühlskälte erstarrten Welt, ein Irrender in einer Welt der Lieblosigkeit, ein Suchender in einer Welt der Täuschungen und des Selbstbetruges: Bei DIETRICH FISCHER-DIESKAU und MAURIZIO POLLINI war Schuberts "Winterreise" nicht nur das Seelengemälde des einsamen Wanderers, sondern darüber hinaus eine fast kämpferische Anklage gegen eben diese Welt, die ihn in die Einsamkeit trieb. In den ersten Liedern des Zyklus erscheint der Wanderer noch voll von emphatischer Kraft, lehnt er sich gegen das Ausgestoßensein, die aufgezwungene Wanderschaft auf, will er mit seinen glühend heißen Tränen, also mit der Kraft seiner Liebe und seines Gefühls ",zerschmelzen des ganzen Winters Eis" und "durchdringen Eis und Schnee". Dieses jähe Aufbäumen gegen den desolaten Zustand der Welt muß aber der schleichenden, immer deutlicher vor seine Augen tretenden Erkenntnis weichen, daß er allein mit seinen Tränen, mit der Glut seines Herzens das Eis nicht schmelzen kann.

Je mehr sich diese Erkenntnis in dem Wanderer durchsetzt, um so mehr flüchtet er sich in Träume von einer grünenden, blühenden Welt des Frühlings, die im emotionalen Bereich einer Welt der Harmonie, des Verständnisses und der Offenheit entspricht. Der Frühling ist das Symbol des Lebens, des Wachsens; wenn die harte, starre Rinde zerbrochen ist und das Eis in Schollen zerspringt, dann erst mag "Wonne und Seligkeit" im Herzen des Wanderers erblühen. Im Gegensatz dazu steht die unerbittliche Wirklichkeit des Winters, die Tatsache, daß er aus der Stadt vertrieben wurde und - Außenseiter, der er immer war - nunmehr auf einsamen Pfaden durch die Kälte zieht, rastlos, ruhelos, durch das stetige Gehen auch vor sich selbst und seinem Leiden davonlaufend.

Gerade dieses Moment, das ziellose Umherirren, die sinnlose Motorik als Ablenkung vom eigentlichen Leiden schien mir in der Interpretation Fischer-Dieskaus und Pollinis besonders in den Vordergrund gerückt. In der Stille, im Innehalten stürzt das Elend seines Lebens unerträglich in das Bewußtsein des Wanderers, und nur der Wanderstab gibt ihm die Möglichkeit, sich wieder davon abzulenken, weiterzulaufen, weil er es sonst nicht ertragen könnte. Wie brennend aktuell die " Winterreise" in dieser Sicht wird, liegt unmittelbar auf der Hand.

War es zunächst die Erkenntnis der Unmöglichkeit seiner Auflehnung gegen den Winter, so ist es nunmehr das immer deutlicher werdende Gefühl des Wanderers, daß auch der Traum vom Frühling ihm keine Linderung zu verschaffen vermag, da das Erwachen nur um so schmerzlicher wird. Er ist jetzt "zu Ende mit allen Träumen", sein Herz ist gänzlich erstorben, ist selbst "kalt und wild" wie der Winter geworden. Damit ist sein innerer und äußerer Verfall umrissen, hat die Welt über ihn, den Außenseiter, den unbequemen Anderen, den Sieg errungen, ihn mundtot gemacht und ebenso isoliert wie den Leiermann, der irgendwo "drüben hinterm Dorfe" seine Leier dreht, aber von niemandem gehört werden mag. In die Ecke gedrängt wird er von der Welt als Bedrohung ihrer eigenen Saturiertheit empfunden, er, der im Winter "barfuß auf dem Eise" steht und seine Leier nicht stillstehen Iäßt. Ist es ein matter Schimmer von Hoffnung, daß sich der Wanderer zu dem Leiermann gesellt und in ihm einen Weggefährten findet, oder ist es nicht vielmehr das endgültige Eingeständnis der Ohnmacht des Künstlers gegenüber der eisigen Kälte der Welt?

Solche und mehr Fragen warf dieser Liederabend auf, und man könnte Seiten füllen, wollte man all die kleinen Details, die ausgefeilten Nuancierungen beschreiben, die die Darstellungskunst von Pollini und Fischer-Dieskau auszeichneten. Jedenfalls erschien das Werk in einem anderen, gänzlich neuen Licht und hatte an Aktualität nicht das Geringste eingebüßt.

Bei einer so tief durchdachten, so tief nachempfundenen Gestaltung mußten beide Künstler von ihrem Publikum die gleiche Konzentration fordern, die sie sich selbst auferlegten. Die einzelnen Lieder gingen pausenlos ineinander über, oft wurde der Schlußakkord des letzten mit dem Eingangsmotiv des nächsten Liedes nahtlos verbunden. So entstand ein Eindruck von epischer Einheitlichkeit, kein Zyklus von Liedern, sondern ein einziges Lied von der Winterreise. Die Spannung und Intensität, die mit den ersten Versen einsetzte, steigerte sich unablässig bis zum Ausklang in den "Nebensonnen" und im "Leiermann".

Bedauerlich, ja ärgerlich war dann schon, daß das Berliner Publikum in der ausverkauften Philharmonie dieser Konzentration und Verdichtung nicht zu folgen bereit oder in der Lage war. Nach jedem Lied wurde obligatorisch aus allen Ecken gehustet und Pollinis Klaviereinleitungen gingen zumeist im allgemeinen Geraune ung Geräuspere unter. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen die Atmosphäre des Abends beeinträchtigt wurde und sich der höchste Grad an Verinnerlichung, der bei diesen beiden Künstlern möglich wäre, nicht einstellen wollte.

Paul Cleron

 

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