Zum Konzert am 31. Januar 1979 in München


Süddeutsche Zeitung, 2. Februar 1979 

Aus innerer Notwendigkeit

Gary Bertini dirigierte das 6. Konzert der Münchner Philharmoniker

Im Programmheft des 6. Philharmonischen Konzerts im Herkulessaal ist viel von der Problematik in Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" (op. 46, geschrieben 1947 in Amerika) die Rede, von seiner Abblendung zum moralischen Appell, und Adorno spricht gar von der "Peinlichkeit", die aus der Ausweglosigkeit des Kunstcharakters vor der nackten Brutalität resultiere, die die Aufführung des Werkes selbst in Frage stelle. Nun, unter dem unmittelbaren Eindruck der Sendung des Films "Holocaust" werden all diese ästhetisch-theoretischen Bedenken gegenstandslos vor der Flamme der Empörung, des Zornes und Schmerzes über die Vergeblichkeit des verzweifelten Aufstands der Warschauer Juden, von denen der "Überlebende" kündete, in "einer bis zum Zerreißen gespannten Dichte des Ausdrucks" (Stuckenschmidt), der sich wie ein ungeheurer Bann auf die Zuhörer legt, zumal wenn Dietrich Fischer-Dieskau diesen Überlebenden spricht (in einer gegenüber dem Sprechtonfall, wie er in der Partitur des frühen "Pierrot lunaire" verlangt ist, revidierten Notation). Das abschließende Gebet "Schema Yisroel", das der Chor auf das Wüten des deutschen "Feldwebels" in gefaßter Todesbereitschaft anstimmt, ist von erschütternder Wirkung nach den gellenden militärischen Signalen, die Gary Bertini, der Dirigent des Abends, mit exzessiver Brutalität hineinstoßen ließ.

[...]

Am Schluß des Konzerts stand Mozarts unvollendete Messe in c-Moll KV 427 - warum er den Torso der am 25. August 1783 in der Salzburger Peterskirche uraufgeführten Messe nicht vollendet hat, ist bis heute nicht geklärt. Denn zum Unterschied von den "Gebrauchsmessen", die er in Salzburg geschrieben hat, enthält die von Wien mitgebrachte Partitur eine ausschließlich von innerer Notwendigkeit und Eingebung diktierte Musik, die aus Mozarts Auseinandersetzung mit der Welt Johann Sebastian Bachs hervorgegangen ist und hinter der "das ganze 18. Jahrhundert" (Einstein) steht, vornehmlich die großen Italiener. Zwischen Bachs h-Moll-Messe und Beethovens "Missa solemnis" ist kein Werk von so eindringlicher Sprache des liturgischen Textes komponiert worden - dazu kommt der unverwechselbare melodische Tonfall Mozarts mit seiner Kantilene in den Sologesängen und dem kantatenhaften Aufschwung der Chöre. Ein Deliziosum ist das (gleichwohl von strengen Puristen mit Stirnrunzeln aufgenommene) "Et incarnatus est" für Sopran, das mit seiner Süße und an die Holdseligkeit alter Christgeburtsdarstellungen erinnernden Lieblichkeit wahrhaft entzückt, nicht minder das Solistenquartett des "Benedictus" mit seiner herzlichen und in seiner Glaubensgewißheit so imposanten Stimmführung. Für dieses Quartett stand auch wieder Dietrich Fischer-Dieskau glanzvoll zur Verfügung, nachdem die Damen Julia Varady und Sheila Armstrong (einspringend für die erkrankte Helen Donath und besonders prädisponiert für jenes "Incarnatus") und der Tenor Werner Hollweg in ihren Arien, Duetten und Terzetten durch Ausdruck und Belcanto (und ebenso der Chor) die Gunst des Publikums für sich eingenommen hatten.

Gary Bertini zeigte sich auch Mozart gegenüber als inspirierter und überlegener Dirigent; die Philharmoniker folgten ihm, wie sie auch bei Schönberg seiner Engagiertheit, bei Strawinsky seiner Konzentration gefolgt waren, nun auch seiner Intuition für Mozart. Viel Beifall für das ganze Programm und seine Ausführung.

K. H. Ruppel


  

     Abendzeitung, München, 2. Februar 1979

Dramatische Szenen aus dem Getto

Herkulessaal: 6. Philharmonisches Konzert mit Gary Bertini

   

Herkulessaal: Strawinskys "Psalmensinfonie", Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" und Mozarts c-Moll-Messe KV 427. Als Solisten waren zu hören: Dietrich Fischer-Dieskau, Sheila Armstrong, Julia Varady, Werner Hollweg und der Philharmonische Chor, einstudiert von Hans Rudolf Zöbeley.

Ob es ein großes Konzert war? Man kann darüber streiten. Es hatte mit Sicherheit keinen programm-dramaturgischen Aufbau, denn jede Komposition hätte in anderem Kontext als Schlüsselwerk stehen müssen. Auf jeden Fall aber war Gary Bertinis Programm ein religiös-ökumenisches.

Zu Beginn Igor Strawinskys "Psalmensinfonie für gemischten Chor und Orchester", klanglich stark vom russisch-orthodoxen Ritus geprägt. Bewundernswert, mit welcher schlagkräftigen Präzision Bertini die Bläser führte.

Angeregt durch die vielen Diskussionen um "Holocaust" mußte Schönbergs musikalisch-politische Auseinandersetzung mit Hitler und den Judenpogromen, "Ein Überlebender aus Warschau", zum wichtigsten Stück an diesem Abend werden. Konzipiert als dramatische Szene schildert Schönberg die Situation während des Judenaufstands im Warschauer Getto, Anfang 1943: Ein aufrüttelnder Dialog zwischen Orchester und Sprecher, vielmehr einem Sprechgesang, dessen Melodie und Rhythmik von Schönberg exakt festgelegt sind. Und wer hätte diese menschenunwürdige Szene erschütternder vermitteln können als Dietrich Fischer-Dieskau? Eine Szene, die Schönberg mit dem apotheotischen Schlußchor ins Religiös-Jüdische entrückt.

Rokoko-Katholizismus in ausladender Breite zelebrierte Bertini mit Mozarts c-Moll-Messe. Der Philharmonische Chor erblühte zu nuancenreichem Chorgesang. Sheila Armstrong, kurzfristig für Helen Donath eingesprungen, ließ ahnen, welch hervorragende Mozartsängerin sie ist. Julia Varadys Domäne scheint vorerst jedoch wohl die Oper zu sein. In Mozarts Messenstil noch nicht zu Hause, versuchte sie Unsicherheiten mit Lautstärke zu kompensieren.

Marianne Reißinger

zurück zur Übersicht 1979
zurück zur Übersicht Kalendarium