Zum Liederabend am 2. März 1981 in Graz


    

     Südost-Tagespost, Graz, 4. März 1981     

Ein außerordentlicher Liederabend:

Dietrich Fischer-Dieskau in Graz

     

Wäre Dietrich Fischer-Dieskau ein Pianist, so hätte er einen Schumann-Abend à la Saison geben können, an diesem Rosenmontag in Graz: Der "Faschingsschwank aus Wien", der "Carnaval" und wohl auch die "Davidsbündler-Tänze" hätten so auf dem Programm stehen können. Da er aber ein Sänger ist (und was für einer!), der sich dem Liedgesang ergeben hat, und da der Liedgesang, zumal bei Schumann, eine ernste Angelegenheit ist, war bei diesem Abend alle Tollheit vergessen. Nicht einmal der Bauernbund-Ball, ein Ereignis im Grazer Fasching, hat es vermocht, die Scharen abzuhalten, die in den Stephaniensaal gekommen waren, um sich, zwei Tage vor der Zeit, die Asche so ernsten Kunstsinns auf die Häupter streuen zu lassen. Wer da nicht mittun wollte, war offensichtlich die Saalverwaltung. Die fand wohl, daß sich soviel Ernst an diesem Abend nicht gehört, und ließ das Licht ausgehen. Das Publikum war aber nicht der Meinung, daß hier der geeignete Ort zum Blödeln war, und die Künstler taten so, als wäre nichts, und ließen sich nicht aus der Fassung bringen.

Fischer-Dieskau, seit 20 Jahren zum erstenmal wieder in Graz, hat eine persönliche Schumann-Auswahl getroffen, die manches enthielt, das man – Hand aufs Herz! – bisher kaum noch gehört hatte. Der prominente Sänger kann es sich leisten, auch Unpopuläres unter die Leute zu bringen, mehr noch, aus Dingen etwas zu machen, von denen wir meinen, daß sie nicht ohne Grund ansonsten vergessen sind. Aber das eben war das Ereignis des Abends, daß Fischer-Dieskau gerade dem weniger Geläufigen immer noch ein interpretatorisches Licht aufzusetzen verstand, das ein Interesse nicht nur am Sänger, sondern auch am Gegenstand seines Singens stets sicherstellte. Ein Lied wie "Flügel! Flügel, um zu fliegen" nach Rückert machte es klar, daß dieser Liedersänger Interpretation ebenso vom rein Musikalischen her versteht wie als Text-Exegese. Der kluge einbegleitende Essay zu seiner Sammlung von Texten deutscher Lieder bestätigt, was man an seinen Liederabenden unmittelbar erfährt: eine starke Affinität auch zur textinhaltlichen Seite der deutschen Liedlyrik. Das Abheben einzelner Phrasen durch Farbe, dynamische Abstufungen und auch mancher Akzent machen das deutlich. Wenn Fischer-Dieskau Lieder singt, singt ein Wissender, nicht nur ein berühmter Bariton.

Zyklisches war an diesem Abend gerade nur angerissen. Zwei Stücke aus den "Myrten", die an Clara gerichtete "Widmung" und der "Schluß", umfaßten eine Dreiergruppe aus dem "Liebesfrühling"; diese Lieder bildeten einen Rückert-Teil am Beginn. Verschiedene Dichter folgten, darunter Eichendorff mit seinem "Schatzgräber". Am Schluß des ersten Teils standen drei Lieder aus op. 40 nach Gedichten von Hans Christian Andersen in der Übertragung von Adalbert von Chamisso: Ein erster Höhepunkt, der einem auf wunderbare Weise die Verwandtschaft zweier Naturen, Andersens und Schumanns, einsichtig machte. Der zweite Teil brachte zunächst keine Aufhellung. Auf Schwermütiges, darunter zwei Lenau-Lieder (der "Schwere Abend" ist wohl das dunkelste Liebeslied, das sich denken läßt), folgte eine Auswahl aus Heine, voller Melancholie, aber auch mit jener Ironie, die vom Komponisten kaum nachvollzogen werden konnte: Hier lag es wieder am Interpreten, uns eine Andeutung von dieser romantischen Ironie zu geben. Und nun erst zum Schluß zwei Stücke, die zu gegebenem Anlaß auch einem musikalischen Mummenschanz gerecht geworden wären, zwei Stücke aus dem Spanischen in der Übersetzung Geibels, "Weh, wie zornig ist das Mädchen" und "Der Contrabandiste", der in geradezu szenischer Anschaulichkeit aus dem "Spanischen Liederspiel" heraustrat. Natürlich war’s da, wie dieser noble Mann auf dem Podium sich als rauhbeiniger Schmuggler verkleidete, erst recht ums Publikum geschehen.

Dieses Publikum, das wohl wußte, warum es trotzdem gekommen war, hatte mit Beifall für diesen außergewöhnlichen Abend nicht gekargt. Selbstverständlich war Jörg Demus in diesen Beifall eingeschlossen, der ein Poet ist am Flügel, auch ohne Liedgesang, wie man weiß. Es gab Extras, zum Teil Bekannteres als das, was die gedruckte Folge gebracht hatte, das "Erste Grün" nach Kerner, die "Schöne Fremde" nach Eichendorff, den "Freisinn" nach Goethe und schließlich noch die unvergleichliche "Mondnacht".

Manfred Blumauer

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     Neue Zeit, Graz ?, 4. März 1981     

Dietrich Fischer-Dieskau in Graz:

Lieder von Schumann, ein fesselndes Psychogramm

   

Dietrich Fischer-Dieskaus Rang in der Musikwelt bedarf keiner Erläuterung. Nach wie vor gilt, was der gerne als deutscher Kritikerpapst apostrophierte Joachim Kaiser schon vor über zwei Jahrzehnten konstatierte: "Er ist gewiß das größte Talent, das seit dem Zweiten Weltkrieg auf den Konzertpodien Europas erschien." Nach zwanzigjähriger Pause ist der berühmte deutsche Bariton nun auch wieder nach Graz gekommen, um hier auf Einladung des Musikvereins für Steiermark am Montag im Grazer Stephaniensaal jenen Liederabend zu geben, der ursprünglich schon im Herbst als Auftakt des Liederabendzyklus geplant war.

Dietrich Fischer-Dieskau hat vermutlich mehr Schallplatten aufgenommen als jeder seiner Kollegen. Als Lied-Interpret hat er sich dabei in den letzten Jahren vor allem mit dem einschlägigen Oeuvre von Robert Schumann auseinandergesetzt und nahezu alle für Männerstimme geeigneten Lieder Schumanns in einer insgesamt neun Platten umfassenden Edition vorgelegt. Wohl nicht zuletzt deshalb hat sich Fischer-Dieskau für seinen Grazer Liederabend ein Programm mit zwanzig ausgewählten Schumann-Liedern zurechtgelegt, das deutlich seine Handschrift trägt und sich wohltuend von den üblichen Schumann-Zusammenstellungen unterscheidet.

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus als sein Partner am Flügel versuchten ganz offensichtlich, Schumanns Weg an die Grenzen der romantischen Ausdrucksmöglichkeiten aufzuzeigen. Konsequent eröffneten sie ihr Programm mit der "Widmung", die am Beginn von Schumanns erstem Lied-Zyklus "Myrten" steht, gingen dann aber in ihrer Auswahl über die Lieder des Jahres 1849, in dem Schumanns Gemütsverfinsterung konstatiert wurde, hinaus bis zum letzten Schumann-Lied, dem 1852, also vier Jahre vor dem Tod des Komponisten, entstandenen "Mein Wagen rollet langsam". Diese mit vielen Raritäten aufwartende Auswahl entspricht exakt Fischer-Dieskaus Schumann-Bild: "Für mich ist Schumann eigentlich eine ständige Gratwanderung, ein Reflektieren seines ständigen Kampfes mit seiner schweren Krankheit. Eben das macht das Ganze derart fesselnd und zugleich fordernd."

Jenen Interpretationsstil, den Fischer-Dieskau für seine Schallplattenaufnahmen mit dem Pianisten Christoph Eschenbach entwickelt hat, konnte man auch beim Grazer Liederabend wiederfinden, obwohl im Stephaniensaal Jörg Demus am Bösendorfer waltete und sich erfreulicherweise keiner romantischen Versunkenheit hingab, sondern ebenfalls – mit sehr vielen Farbvaleurs – ein unruhevolles Schumann-Bild zeichnete. Da er die gerade bei Schumann so entscheidende Autonomie des Lied-Pianisten wahrte und sich nicht in die Begleiterrolle zurückzog, trug er seinen – wesentlichen – Teil zu einem gemeinsamen Musizieren von ungewöhnlichem Spannungsgehalt bei.

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schumanns Lieder heute – und das hat er nicht immer so getan, erscheint vielmehr wie die Frucht eines langen Reifungsprozesses – zumeist ziemlich distanziert, sehr verhalten, stets nur sachte anrührend, nur selten vehement zupackend – und füllt dabei mit Selbstverständlichkeit alle Tiefen des musikalischen Kunstwerkes aus. Er bedient sich dazu eines in der Regel auf halbe Kraft gestellten Stimmregisters, mit dem er bruchlos alle Höhen und Tiefen durchmißt. Dort allerdings, wo er bei dramatischen Ausbrüchen mit Berserkertönen aufwartet, schleichen sich angestrengte und unschöne Töne ein, wird – vor allem bei hohen mit Bruststimme genommenen Tönen – doch ein Verlust an stimmlicher Substanz und Durchschlagskraft bemerkbar. Den Großteil seines Programms freilich trug der 56jährige Bariton mit völlig unversehrtem Timbre vor.

Im Gegensatz zu älteren Liedaufnahmen scheint Fischer-Dieskau nun vom Prinzip des "offenen" Vortrages immer öfter abzuweichen und durch den Einsatz einer "abgedeckten" und dadurch abgedunkelten Mezza voce in seinen Vortrag einen geheimnisvollen und berührenden Charakter einzubringen, der besonders in "Zum Schluß" oder in der "Tragödie II" eindrucksvoll zur Geltung gelangte – aber nie bloß effektvoll wirkte.

Von einer effektvollen Selbstinszenierung nämlich ist Fischer-Dieskaus Schumann-Interpretation, wie er sie am Montag im Grazer Stephaniensaal demonstriert hat, trotz der ungewohnt wirkenden Körpersprache und Mimik auf dem Podium weit entfernt. Auch die früher immer wieder angeprangerten Manierismen und Geziertheiten sind nun aus seinem Vortrag fast völlig verschwunden, in dem auch der ebenfalls kritisierte Hang zur Detailaffektation ausgemerzt scheint. Hiefür war seine fünfte und letzte Zugabe, die populäre "Mondnacht", wohl der beste Beweis. Gerade im bekannten Liedern vorbehaltenen Zugabenteil erstaunte aber nicht zuletzt, daß der deutsche Bariton auch nach x-facher Studioaufnahme und noch häufigerer Konzertinterpretation jedes einzelne auch noch so oft zu hörende Lied mit einer unroutinierten Betroffenheit zu singen vermag, die ihm kaum einer seiner Kolleg(inn)en nachmachen kann.

Ernst Naredi-Rainer

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     Kleine Zeitung, Graz ?, 4. März 1981     

Jedes Lied eine Oper

   

Kein Zweifel, Dietrich Fischer-Dieskau ist der Rolls Royce unter den Liedinterpreten. Live noch viel mehr als auf der Schallplatte.

Alle, die am Montag in den Stephaniensaal gekommen waren, werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß Dietrich Fischer-Dieskau in seinem geradezu grandios geschneiderten Smoking zunächst einmal ungeheuer elegant aussieht. Ein Rolls-Royce eben.

Und wenn er dann durch die romantische Liedlandschaft eines Robert Schumann zu kurven beginnt, bekommt man erst so richtig das Temperament dieses Sängers zu spüren. Perfektion, Präzision, sie sind für ihn und bei ihm selbstverständlich.

Doch alles, was an Fischer-Dieskau in der Platten- und Bandkonserve sehr introvertiert, sehr feierlich, sehr weltabgewandt klingt, das gewinnt, steht er höchstpersönlich am Podium, Leben, Vitalität, Charme, Elan.

Man möcht’s nicht glauben, Dietrich Fischer-Dieskau macht aus jedem Lied eine Minioper, ein Dramolett, er spielt die Musik, auch wenn er nichts zu singen hat. Keine Spur von Meditation. Fast ein bißchen trotzig oder schalkhaft schaut Fischer-Dieskau ins Publikum, als wollte er allem, was er singt, bei denen, die ihm ohnedies schon gebannt zuhören, noch besonderen Nachdruck verleihen. Als wollte er dem Publikum allen Heinrich Heine, Friedrich Rückert, Christian Andersen und was er sonst noch in Robert Schumanns Vertonung gesungen hat, so richtig hineinsagen. Hineinsingen.

Und es ist ihm auch geglückt. Nicht durch irgendwelche spitzfindigen stilistischen Mätzchen, nicht durch Piano-Koketterien oder sonstige technische Bravourakte, sondern durch die ursprüngliche Natürlichkeit, mit der er sich in Robert Schumanns höchst unterschiedlicher Liederwelt bewegt. In die schablonenhaft herunterkomponierten Strophenlieder versucht er nicht mehr hineinzulegen, als in ihnen ist, sondern er singt sie couragiert herunter. Ja, je länger ich so vor mich hinschreibe, desto mehr stelle ich fest, daß Fischer-Dieskau wirklich so gar nicht zu seinem Image paßt, das er gemeinhin hat. Auch in den späten Schumann-Liedern, in denen Begleitung und Gesang schon völlig autonom nebeneinanderher leben, in denen sich die Melodik ähnlich wie beim späten Beethoven schon in Bereiche entfernt, die man mit gutem Recht als modern bezeichnen kann, nichts von intellektueller Spielerei, nichts von heuchlerischer Lustfeindlichkeit. Dietrich Fischer-Dieskau singt alles so schön, so lebendig wie möglich. Bei der Souveränität, mit der er dies tut, stellen sich Geist, Stil, Tiefe ganz von selber ein.

Am Podium des Stephaniensaales befand sich an diesem Abend noch ein zweiter Rolls-Royce. Der neue Bösendorfer-Flügel, auf dem Jörg Demus mit dem prominenten Liedgast eine musikalische Partnerschaft entwickelte, die den Jubel über dieses Konzert zu Recht bis hart an den offiziellen Beginn des Bauernbundballs anhalten ließ, so daß sich die Damen und Herren Salonsteirer im Musikvereinspublikum hübsch beeilen mußten.

Peter Vujica

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