Zum Konzert am 7. April 1982 in München


     

     Süddeutsche Zeitung, 10. April 1982     

     

Eine Vorstufe zum "Lear"

Aribert Reimanns "Wolkenloses Christfest" beim Abonnementkonzert

      

Dietrich Fischer-Dieskau, dem Bariton, und Siegfried Palm, dem Cellisten, hat Aribert Reimann sein "Requiem" nach Gedichten von Otfried Büthe gewidmet, das den leicht irreführenden Titel "Wolkenloses Christfest" trägt. Denn diese knapp 32 Minuten dauernde Solo-Kantate für Stimme, Streichinstrument und Orchester (groß besetztes Schlagzeug, auch ein kompaktes Bläseraufgebot, aber in den Streichern, um der Klangdunkelheit willen, keine Violinen, keine Celli, sondern 10 Bratschen und 6 Contrabässe) vertont vier Gedichte des (verstorbenen) Lyrikers Otfried Büthe, deren letztes "Wolkenloses Christfest" heißt – und Sätze des Weihnachtsgottesdienstes oder der lateinischen Messe verzweifelt anklagend mit der Realität unserer Welt konfrontiert.

Etwa: "Crucifixus advenit / und Napalm; aber wir feiern die Ankunft der Feuerpause / zwischen unsern / bethlehemitischen Morden / sanft / mit den / Tieren / des gestern / vergifteten Waldes." Aufrüttelnd der Schluß: "Vergib unsere Schuld / wir sind gnadenlos / gegen uns / und andere - / Donanobis pacem."

Sowohl vom Ton wie vom Gestus her liegt es nahe, diese Komposition Aribert Reimanns, die Mittelpunkt des 8. Abonnementkonzertes der Münchner Philharmoniker war, mit Reimanns Oper "König Lear" zu vergleichen, als deren Vorstufe der Komponist das Requiem offenbar auch empfunden hat. (Der "König Lear" wurde 1978 mit nachhaltigem Erfolg in München uraufgeführt.)

Die Münchner Interpretation des "Wolkenlosen Christfests" kann insofern als authentisch gelten, als Dietrich Fischer-Dieskau und Siegfried Palm, die beiden Widmungsträger, auf dem Podium waren. Auch der Dirigent Leif Segerstam hat sich ja gerade als Anwalt neuer Musik längst einen Namen gemacht.

Was fiel nun auf? Trotz der großen Besetzung ist die Musik nicht vielstimmig. Sondern ein differenziertes Blas-/Streichorchester stellt einen differenzierten, mit Dämpfungen und Flageolett-Wirkungen zustandekommenden Klangteppich her. Das ist mehr ein "sound" als entfaltete Musik. Über diesem Sound liegt die Singstimme und gelegentlich das Solo-Cello. Man hat es – überspitzt gesagt – mit einem ruhigen Duettieren über einem zwar auf komplizierte Weise produzierten, aber einfach durchhörbaren, mitfühlbaren Klangteppich zu tun.

Bleibt also die Stimmführung relativ schlicht, so drängen sich auch keine heftigen rhythmischen Komplexe auf, sondern man empfindet meist einen langsamen Viertel-Puls, am – was nicht negativ gemeint zu sein braucht – "Text entlang komponiert". Hin und wieder heftigere Verdichtungen, Ballungen: vor allem im letzten Stück.

Die rhythmische Ruhe und die gelegentlichen Taktwechsel (ob man langsam 4/4 hört oder 5/4, ergibt kaum einen Unterschied, wenn ein Viertel die Haupteinheit darstellt) könnten der Darbietung des Textes dienen – und das sollen sie gewiß auch, zumal gewisse Wendungen sich zwar kompliziert lesen, aber doch klingen, wie ruhig chromatisch umschriebene, einfache d-Moll-Kadenzen ("Mond unter meinem entgleitenden Fuß").

Aber alle diese Mittel, die als Widerstand und Bereicherung und Auskomposition der Shakespeareschen "Lear"-Tragödie ihren bedeutenden dramatischen Sinn hatten, erweisen sich gegenüber den gewiß herb empfundenen, doch etwas epigonalen, aus schmerzlichen Exklamationen und Metaphern bestehenden Büthe-Gedichten als seltsam spannungslos. Weil diese Gedichte, vor allem das erste und das lange zweite, doch zu wenig Entwicklung in sich haben, tritt auch die Musik pathetisch auf der Stelle: sie gibt eine Oberfläche frei, die allzu punktuell gefügt scheint. Trotz heikler Cello-Passagen und ausdruckshafter Lied-Deklamation. Schöner, wenn auch sehr verhalten, das einfache, fast gefährlich simple dritte Stück "Liebende". Wirkungsvoll den großen Aufwand wie Apparat rechtfertigt dann doch nur das Schlußstück, wo mehr auf dem Spiel steht als Schmerz-Halbsätze. Da herrscht dramatischer Affekt, da geht das Orchester aus sich heraus wie in den Zwischenspielen des "Lear" – da bereitete sich ein Triumph für Fischer-Dieskau, Siegfried Palm, Segerstam und den herzlich gefeierten Komponisten vor. [...]

Joachim Kaiser

       


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