Zum Konzert am 22. April 1982 in Stuttgart


     

     Stuttgarter Nachrichten, 24. April 1982     

     

Tod ohne Verklärung

Saison-Finale des Radio-Sinfonieorchester mit Aribert Reimann

      

Im letzten Saisonkonzert des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters ergab sich zugleich der Höhepunkt jener Veranstaltungsfolge, die der Süddeutsche Rundfunk in diesem Jahr dem Komponisten Aribert Reimann ausgerichtet hat. Wobei der Vergleich des Orchesterstückes "Loqui" von 1969 mit den Fragmenten aus der Oper "Lear" (1976/78) zu der sicheren Vermutung führte, daß Reimann, rein physisch, zwar kein mit ausgeprägtem Instinkt für die menschliche Stimme begabter Musiker sein dürfte, gewiß doch aber ein musikschöpferisches Talent, das des literarischen Vorwurfs oder doch Wortprogramms bedarf, um sich voll entfalten zu können.

Die fünf Zwischenspiele und drei von Dietrich Fischer-Dieskau souverän dargestellten Lear-Monologe aus der durch das Fernsehen weithin bekannt gewordenen Shakespeare-Oper verfehlten ihre große Eindruckskraft beim Publikum nicht. Fischer-Dieskaus Titelpartie und die zwischen brutuistischem Schlagwerkgetöse, irisierendem Clustereffekt und lyrischem Schleierklang wechselnde Musik illustrieren überaus eindrucksvoll die mörderische Menschentragödie. [...]

Der Publikumsbeifall, von Fischer-Dieskaus Interpretationskunst freilich zu guten Teilen animiert, zeigte, daß Südfunk-Orchesterkonzerte auch dann ästimiert werden und ein volles Haus finden, wenn Programminhalte auf unsere Gegenwart verweisen.

Dieter Schorr


    

     Zeitung unbekannt, 2. Juli 1982     

    

Stuttgart: Atelier Aribert Reimann

Botschaften und Klangmagie

[...]

Die Verbindung von alt mit neu macht einen wichtigen Teil des klanglichen Gesamteindrucks bei Aribert Reimann aus. Indem er das kontrapunktische Spannungsverhältnis als auslösendes Moment, als die Grunderfahrung für jede seiner Kompositionen bezeichnet, erklärt Reimann seine Musik als eine "musica humana" im weitesten Sinn. Sein bisheriges Hauptwerk, der "Lear", ist das beste Beispiel eines "dritten" Weges heutigen Komponierens. Reimanns intelligente, bisweilen auch intellektuelle Musik ist ein einziger, bereits gelungener Versuch der Synthese. Der Erfolg der Monologe und Zwischenspiele aus "Lear", gesungen von dem erschütternd-expressiven Fischer-Dieskau, der sich mit Haut und Haaren mit der Rolle des blinden Königs identifizierte, ist ein Beweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. In Härte und Brutalität, aber auch zartem, trauerndem Adagio-Ton in den Streichern oder dem Baßflötensolo war das glänzend disponierte Radiosinfonieorchester Stuttgart Fischer-Dieskaus hinreißender Leistung vollauf gleichgestellt. [...]

Bernhard A. Kohl


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