Zum Liederabend am 8. März 1984 in Bamberg


Fränkischer Tag, Bamberg, 10. März 1984

Herz, Gemüt und Seele geöffnet

Dietrich Fischer-Dieskaus Brahms-Konzert beim Bamberger Musikverein

Ob Brahms selbst seine Lieder für Männerstimme jemals in der Vollkommenheit gehört hat, die seiner Gabe der Komposition die Feder aufs Notenpapier führte, darf man durchaus bezweifeln. Keine Briefstelle seiner Korrespondenz mit Clara Schumann etwa oder denen von Herzogenberg bietet einen Hinweis. Mag man die legendären Sänger vor allem ins Altertum verweisen: Mit Dietrich Fischer-Dieskau und seinem Konzert im Musikverein Bamberg wurde jeder Hörer ein Teilhaber an der Vollkommenheit, wie man sie sich überhaupt nur zwischen musikalisch-dichterischer Vorlage und der klingenden Ausführung denken, erhoffen, wünschen kann.

Daß so ein künstlerisches Erlebnis, Ereignis, Offenbarung auch mehr als den üblichen Zuhörer-Raum anbietet und damit auf den Kulturraum auswich, darf dem Veranstalter neben der Tatsache der Künstlerverpflichtung selbst noch angerechnet werden; Meilensteine "Bamberger" Kultur sind immer noch Privatinitiative. Nur Brahms? Die Frage wird beim Anhören schon des ersten Opus gegenstandslos. Zwar ein Text von Mörike, Goldgrund des Klassisch-Humanen in der Unwirklichkeit romantischer Träumerei, aber ohne die Brahmssche Musik doch kaum mehr erträglich, und dann beginnt eben ein Erlebnis, welches sich nur mit "Zauberei" oder wenigstens "Verzauberung" umschreiben läßt: Brahms – Dieskau – Höll, ein Dreiklang, den man zu jenen Sphärenharmonien rechnen darf, von denen Philosophie und Musik erzählen.

Welche Rolle spielt wohl die Dichtung für den Komponisten? Sein Notenbild verrät deutlich abgesetzte musikalische Kapitel, plötzlichen Übergang und Umschwung seiner Mittel wie Tonart, Dichte des Gefüges, Rhythmik und Polyrhythmik, letztlich deutlich lesbare Charakterzüge, welche sich als bedächtige und beharrliche Kraft abbilden, die Grenze der lastenden Schwere erreichen und doch nie die zärtliche Sehnsucht oder stille Resignation vermindern, die sich völlig durchweben. Der kongeniale Pianist Hartmut Höll spielte so, als hätte er seine Finger direkt an der Seele des Instruments, klingender Endpunkt der von Brahms vorgedachten Gedanken auf den Saiten, Nuancen und Farbschattierungen, die man gedanklich gleich ins eigene Gemüt schickt, damit sie nicht verlorengehen mögen.

Was der Komponist "seinem" Klavier alles anvertraute und durch eigene gewachsene Lebenserfahrung auch anvertrauen konnte, überschreitet die Grenze verbaler Ausdrucksmöglichkeit; Hartmut Höll hat mit Sicherheit den vollen Zugang in das Brahmssche Reich gefunden!

Manches aus der überwältigenden Kunst Dieskaus, seiner an Magie rührenden Kraft der Darstellung dieses Bamberger Konzertabends kann man in Bewunderung und auch als Leitlinie für andere, die sich in solcher Kunst versuchen, durchaus beschreiben. Ob der Text vom genannten Mörike, ob es eines der "kostbaren Gebilde" Platens war, es durften Daumer und Schack folgen, Münchner Dichterkreis mit "musikalischem Ohr ohne vollempfindlichem Dichterherz", dann der verspätete Romantiker Simrock, Candidus oder ein volkstümlicher Böhme: Dieskau fand für jedes, wirklich jedes einzelne Wort eine sowohl sprachlich-dramatische Gestalt als auch ihren untrennbaren Zusammenhang zu Brahms’ Melodie- und Klangidee. Nichts war nebensächlicher, nichts war gleich, nichts war ohne ein plötzliches Gewicht, das es vorher kaum verriet und nun durch den Sänger zugeteilt bekam, daß man nur noch atemlos lauschen konnte.

Es war gut, daß der Beifall erst nach den Liedgruppen kommen durfte, so daß diese eigene Welt nicht durch dieses Relikt der ansonsten in völlige Passivität gedrängten Hörer zerstört werden konnte. Man kann dem zweiten Teil des Liederabends nur hinzusetzen, daß die Wahl der dichterischen Vorlage nun auf Goethe fiel, Wort und Idee auch heute noch glaubhaft und lebensstark, dann Heines ironische und zerrissene Romantik aufnahm, die impressionistischen Augenblicksbilder Liliencrons hinzugesellte, Gottfried Kellers "Abendregen" und "Therese" hören ließ; der Name "Halm" steht für den Generalintendanten der Kaiserlichen Hoftheater zu Wien um 1870, richtiger eben für Eligius Franz Joseph Freiherr von Münch-Bellinghausen.

Es gab dann noch einen ungeplanten, nur erhofften dritten Teil, als nach der Bürde des Konzerts, welche allerdings so nie spürbar war, Dieskau und Höll den Schatz der Zugaben ins Volk streuten. Es gibt eben doch noch Abende und ihre gestaltenden Musiker, die jenseits aller Grenzen technischer Beschränkungen Herz, Gemüt und Seele öffnen.

Wolfgang Spindler

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