Zum Liederabend am 10. März 1984 in Erlangen


Erlanger Nachrichten, 12. März 1984

Lyrischer Kosmos

Dietrich Fischer-Dieskau in Erlangen:
Ein fulminantes Brahms-Porträt in Liedern

Wo gibt es einen Sänger, bei dem ein kritischer Zuhörer 35 Jahre lang, bei jedem Auftritt, Neues entdecken kann? Der immer wieder Noch-nie-Gehörtes aufschlüsselt, der in jeder Oper, bei jedem Liederabend, Wesentliches mitzuteilen hat? Einen, der nicht nur seinen Fans Da-capo-Effekte zu kulinarischer Delikatesse bereitet, sondern der Musik als geistig-künstlerisches Abenteuer aufregend erlebbar macht. Wo diese Bedingungen alle zur Vollkommenheit erfüllt sind, beginnt das Phänomen Dietrich Fischer-Dieskau. Und es reicht weit darüber hinaus.

Zum Brahms-Jahr 1983 erarbeitete er eine chronologisch geordnete Auswahl, mit Zugaben rund zwei Dutzend Lieder aus über 300 Titeln. Er spannt den Bogen dieses Programms – jetzt in der Erlanger Stadthalle zu hören – über drei Jahrzehnte Brahmsschen Schaffens. Mit jeder Facette gewinnt die auf den ersten Blick zufällig anmutende Selektion an Konsequenz und Intensität. Von Station zu Station dringt der Interpret tiefer ein in den lyrischen Kosmos aus Wort und Ton. Einsame Gipfel erklimmt er bei den Heine-Vertonungen.

"Also spiegle du in Liedern, was die Erde Schönstes hat", schließt das Simrock-Poem "Auf dem See". Der singende Philosoph Fischer-Dieskau verweilt nicht in der puren Schönheit einer heilen Welt; er setzt mit analytischer Tiefenschärfe Fragezeichen. Hinter der Textfassade, jenseits melodischer Erbaulichkeit, schaut der Lieddarsteller in seelische Abgründe. So zeichnet er unmittelbar anrührende Psychogramme.

Stimmlich befindet sich der Weltstar, der 1985 schon sechzig wird, seit Jahrzehnten im Zenit. Die technisch souveräne, von keinen Manierismen getrübte Brillanz, muß man nicht jedesmal loben. Neben seinen großen Operngestalten, zwischen Sachs und Lear, bleibt die Lied-Bühne seine ureigene Domäne. In der kleinen Form war er immer der Größte. Da genügt oft ein sanftes Crescendo, die leichte Betonung einer Silbe, um bedeutsame Akzente zu setzen; da weitet sich die Skala des Ausdrucks vom zartesten Mezzavoce bis zur dröhnenden Fortissimo-Kraft. Meistens übertrifft die Live-Faszination seine eigenen perfektionierten Schallplatten turmhoch. Bei Liliencrons "Kirchhof" fiel es mir eklatant auf.

In diesem fulminanten Brahms-Porträt, ebenbürtig neben der "Winterreise" oder seinen Mahler-Gesängen, erreicht Fischer-Dieskau das Höchstmaß einer geistigen Durchdringung von Emotionen. Gefühl und Intellekt sind permanent in Wechselbeziehung. Über Brahms schrieb der Sänger einen Essay (erschienen Mai 1983 in "Die Welt"), aus dem das Tournee-Programmheft verstümmelt einen kleinen Auszug (ohne Quellenangabe) nachdruckt. Darin heißt es: "Bei Brahms weitet sich der kleine Raum des Liedes zum überpersönlichen Bild der ganzen Natur. Und das kann wohl als die Aufgabe dieses Brahmsschen Geistes angesehen werden: Dem Lied soll das Übermaß des Subjektiven wie des Sensitiven entzogen werden."

Spätromantisches Übermaß will Fischer-Dieskau versachlichen. Darin unterscheidet sich seine Brahms-Deutung von seiner Schubert- und Schumann-Auffassung. Er weiß es und er singt es. Andere tönen und turnen ein Leben lang von Rolle zu Rolle und haben nicht soviel zu sagen wie er in der Minuten-Miniatur eines einzigen Liedes.

Das Publikum in Erlangen feierte ihn stürmisch und schloß zu Recht den jungen, sensiblen, mitgestaltenden Pianisten Hartmut Höll in die Ovationen ein.

Fritz Schleicher

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