Zum Liederabend am 18. März 1984 in Freiburg


    

     Badische Zeitung, Freiburg,  20. März 1984     

Der Gesangskünstler

Dietrich Fischer-Dieskaus Freiburger Brahms-Abend

     

Mitte der 50erJahre muß es gewesen sein. Wir fuhren mit dem mühsam zusammengekratzten Taschengeld in die nahe Großstadt. Die Langspielplatte gab’s noch nicht, aber der Ruf des jungen Liedersängers verbreitete sich rasch. Eben dreißig mag Dietrich Fischer-Dieskau gewesen sein, als wir ihn damals hörten. Ein Herold, mehr: ein Messias des Liedes. Ein junger Mann, wahrhaft durchdrungen wirkend. Ein Verzückter, der sich der Liedkunst umschweiflos anheimgab, eine Aura um sich schuf. Die Stimme: ein ganz schlanker, tatsächlich jünglingshafter Bariton, der gleichwohl zu donnern verstand, wenn’s ums große Pathos ging. Aber seltsam: Schon damals war’s nicht eigentlich die Stimme, die uns vordringlich fesselte. Sondern ein Zusammenwirken aus vokalem Gelingen und Ausdrucksvermögen, aus gesungenem Nachhall des Dichterwortes und nachschöpferischer Anverwandlung. Fischer-Dieskau sang an jenem Abend Brahms.

Stimm-Visionen ...

Fast 30 Jahre später. Wieder ist Fischer-Dieskau in Deutschland unterwegs. Wieder hätten die Veranstalter – im Freiburger Paulussaal die Albert-Konzerte – die Räume mehrfach füllen können. Wieder Brahms. Vorn der Künstler, der auch auf Plattenhüllen-, auf Programmheftfotos nicht die ewige Jugend vorzutäuschen sucht, der sich grauhaarig, seit einiger Zeit hager im Gesicht, nicht ohne Falten präsentiert. Und auf die Stimme kommt’s nun noch weniger an als ehedem. Wer sich angesichts des künstlerischen Gesamtergebnisses immer schon geniert hat, sich bei Fischer-Dieskau als töneabhakender "Merker" zu gebärden – heute tut er’s vollends. Daß eine Stimme in der Forte-Höhe nicht besonders gut klingt – gewiß doch, es tritt mehr denn je zutage. Aber ist denn nicht der Sänger viel mehr Künstler, der diese Schwäche nicht wegzuschwindeln trachtet, der dieses Register dennoch nutzt, wo es ihm interpretatorisch geboten scheint? Fischer-Dieskau betreibt keine Stimmkosmetik.

Zu fragen wäre vielmehr, ob er nicht manchen Gang ins Forte ohne rechten Sinn antritt, ob man das immerwährende Aufsuchen der dynamischen Extremwerte nicht mitunter willkürlich, zumidest aber übertrieben nennen darf? So wie es auch immer wieder Worteinfärbungen gibt, die kaum zu begründen und somit eher in der Schublade mit der Aufschrift "Manierismus" abzulegen sind? Nur, wer will derlei bei einem Sänger ermessen, bei dem immer wieder das "Muß" hinter allem vokalen Tun zu stecken scheint? Bei einem Wort-/Ton-Interpreten, dessen Stimme sich im "Abendregen" nach Gottfried Keller tatsächlich verdüstert, die schwerer tönt, wenn vom Wanderer "mit düstrer Seele" zu singen ist? Farbgesang, dessen Gehalt sich in der Stimmhaltung spiegelt. Ähnliches geschieht in "Nicht mehr zu dir zu gehen" nach Daumer, wo bei "... denn jede Kraft und jeden Halt verlor ich" die Stimme auf dem Wort "verlor" tatsächlich zu sinken scheint, obwohl sie den Ton hält. Die interpretatorische Bedeutung solcher Momente überwiegt die Einwände bei weitem.

Und dann war von jenen Augenblicken noch gar nicht die Rede, in denen der Fischer-Dieskau von heute immer noch zu dem von einst aufschließt. Es sind nicht nur die "Träume und Erinnerungen" in Schacks "Abenddämmerung", wo Fischer-Dieskaus Meisterschaft eines unverändert unvergleichlichen Piano-Tonfalls Empfindungen, ja Visionen zu vermitteln vermag. Diese ganz leicht ansprechenden Bezirke des Leisen sind auch in Zeiten unzweifelhafter stimmlicher Reduktion nachtwandlerisch sicher abrufbar: ein Vokal-Faszinosum, das Fischer-Dieskaus ureigene Mischung aus Kalkül und Hingerissenheit am stärksten prägt.

... und Raritäten

Bliebe zumindest anzufügen, daß dieser Brahms-Abend – Ausnahmen: die vier Zugaben – fast ausschließlich aus meist vernachlässigten Seitenwerken bestand, daß Fischer-Dieskau seine Autorität zur Erweiterung des Brahms-Bildes auch solider Brahms-Kenner nutzte, wobei vor allem auch die dunklen, existenzgefährdeten, tristen Gefühlssphären berücksichtigt waren: Entdeckungen bei einem Bekannten.

Und hinzuzufügen wäre ebenfalls, daß Hartmut Höll, der sich in den letzten Jahren immer stärker profilierte, einen spezifisch Brahmsschen Klavierton entwickelte. Weit mehr als ein "Begleiter", stieß er in "Es liebt sich herrlich im Lenze" gar zu einer frühimpressionistischen Brahms-Variante vor.

Heinz W. Koch

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