Zum Liederabend am 28. März 1984 in Darmstadt


Darmstädter Tagblatt, 30. März 1984

"Also spiegele du in Liedern..."

Eindrucksvoller Brahms-Abend mit D. Fischer-Dieskau und H. Höll

Dietrich Fischer-Dieskau, der große Sänger, in Kürze in das 60. Lebensjahr eintretend, schlank und weißhaarig geworden, kam endlich wieder in unsere Stadt- dank eines Sonderkonzertes in der Kongreßhalle (leider also nicht im Großen Haus). Er wurde lebhaft begrüßt und nach einem erlebnisreichen Brahms-Abend jubelnd (nach fünf Zugaben) verabschiedet. Es war ein Höhepunkt der Saison, ein besonderer Abend mit diesem exemplarischen Sänger. Er zeigte sich in einer auch stimmlich ungewöhnlich guten Form und demonstrierte Liedgestaltung par excellence, wie man es von ihm zwar gewohnt sein mag, wie es aber hier zu einem wieder neuen, wahrlich unvergleichlichen Ereignis wurde.

Fischer-Dieskau hatte zumeist wenig bekannte Brahms-Lieder gewählt – sehr charakteristische Kompositionen mit Natur- und Nachtschilderungen, von Liebe und Tod, von "gewesen" und "genesen". Die eigen herbe, nie vordergründig melodische, den Gestalter mehr als den Vokalisten herausfordernde Liedwelt von Brahms meinte man an diesem Abend erst ganz und erfüllt kennenlernen zu können. Bezeichnend sogleich die "Äolsharfe" mit dem "geheimnisvollen Saitenspiel", das der junge, phantastische Pianist Hartmut Höll präzis im Ausdruck intonierte. Auffallend die faszinierende Behandlung der Dynamik einer "melodischen Klage", teils erzählend, teils deutend, mit gesungenem Doppelpunkt vor dem letzten Teil, nach dem Verzweiflungsfortissimo "meiner Sehnsucht" offen beim "hinsterbend wieder".

Was dieser Bariton an Differenzierungen, Nuancierungen, Farben und dynamischen Varianten im unmittelbaren Zusammenhang mit Wort und Note zu bieten hat, ist einfach phänomenal und von keinem zweiten Sänger erreicht. Und das, was auf den Schallplatten manchem Hörer zu deklamatorisch-pathetisch erscheinen mag, gibt sich im Konzertsaal ganz anders, eben nicht als – falsches – Pathos, nie als Sentimentalität, nie forciert, immer als ausdrucksreicher Gesang im Sinne der letzten Zeile des Liedes "Nicht mehr zu dir zu gehen": "nur dein Gefühl enthülle mir, dein wahres" – und hier auch von einem fesselnden Nachspiel des Klaviers mitvermittelt, wie Höll überhaupt den Idealfall eines Partners darstellt: bis in winzige Details hinein mitatmend, so bei einem minimalen Verweilen des Sängers (etwa auf "mein Liebchen" im "Gang zum Liebchen"), dort bei einem Ausmalen der Stimmung, bis hin zum energischen Trommel-(An-)Schlag des "Tambourliedchens".

Den Schluß des Liedes "Auf dem See" sang Fischer-Dieskau gleichsam als Leitmotiv seiner Kunst: "Also spiegle du in Liedern, was die Erde Schönstes hat". Und dazu gehört auch das Ironische ("Unüberwindlich" mit köstlichen Koloraturen) wie das "wehmütig und trüb" in Heines "Es schauen die Blumen" oder das ergreifend schlicht gesungene "Auf dem Kirchhof" mit einer atembeklemmenden Zäsur nach "gewesen" und einem großen, auf das "genesen" hinzielend vorgetragenen Bogen am Ende, was sich wie selbstverständlich im neckischen "Maienkätzchen", unmittelbar angefügt, heiter löste.

Erstaunlich, wie direkt und doch ganz nach innen gewendet, wie nie pastos und klaviersatz-dick dieser Lieder-Brahms hier erschien, manchmal in der Gesangsdiktion an den "Meistersinger"-Wagner erinnernd, dann eigen auf moderne Musiker vorausweisend, gleichsam als ein norddeutscher Schubert – jedenfalls in der Interpretation Fischer-Dieskaus, aber auch Hartmut Hölls, mit diesem Sänger eine Einheit bildend wie man es sehr selten erfährt.

Die Zugaben nahmen sich wie eine weitere Liedergruppe aus, vom beglückten Publikum förmlich erzwungen, da es nicht weichen wollte: "Wie bist du, meine Königin" und "Wir wandelten", dann "Ruhe, Süßliebchen" sowie "Ständchen", schließlich "Feldeinsamkeit". Im letzten Lied nahm uns gefangen, wie Fischer-Dieskau die erste lange Zeile aufbaute bis zum Nachklang der Wiederholung des "nach oben", wie er die große Linie fortsetzte – "wie schöne stille Träume", wie er den Ausdrucks-Umschwung vor "mir ist, als ob ich längst gestorben bin" realisierte, mit einem packenden Decrescendo verbunden, um dann neu anzusetzen und den Schlußgedanken wie ein Resümee auch dieses Liederabends auszusingen: "und ziehe selig mit durch ew’ge Räume".

Brahms hat kaum dynamische Vorschriften gegeben. Er hat wohl auf einen Fischer-Dieskau gehofft – und gewiß warten müssen -, der die innere Dynamik seiner Lieder in Gestalten und Gestaltungen ausschöpfte, verwandelt.

v. L.

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