Zum Konzert am 11. August 1984 in Salzburg


     Salzburger Nachrichten, 13. August 1984     

Vom Grauen und dem Guten

Festspiel-Uraufführung eines Werkes von Paul Engel

    

Viele Noten ergeben nicht automatisch ein gutes, sondern zuerst einmal ein langes Stück: Solche Erfahrung mußte man machen, als am Samstag in der Felsenreitschule, im ersten Gastkonzert des ORF-Symphonie-Orchesters, die Dritte Symphonie "Im Wendekreis" für gemischten Chor, großes Orchester und Bariton-Solo von Paul Engel uraufgeführt wurde. Der ORF hat dem 35jährigen, aus Hall in Tirol stammenden Komponisten den Auftrag gegeben, ein Chor-Orchester-Stück für eines der Festspielkonzerte des ORF-Orchesters zu schreiben. Das ist a priori zu begrüßen, zumal wenn nicht ein renommierter Musiker, sondern einer aus der jüngeren Garde zu Wort kommt. Der ORF bekennt sich damit auch zu einem kulturellen Engagement, was wohltut in Zeiten, in denen er Gefahr läuft, zum Beifallsmedium der Gesellschaft zu verkommen.

Die Kehrseite der Medaille aber ist: Da war ein sicherlich sehr bemühter, sehr fleißiger, sehr strebsamer Komponist überfordert, dem äußeren Umstand nach, an einem so exponierten Ort wie dem sommerlichen Salzburg ein Finalstück vorzustellen, dem inneren Umstand nach (und das allein hat Paul Engel zu verantworten), daß diese Symphonie ein "Gedankenwerk" ist, das nach den Sternen greift (der "Frage nach Ursache und Wirkungen des Seins") und sich damit selbst den Boden entzieht.

In drei langen Sätzen (insgesamt dauert das Stück gut eine Stunde) wird feierlich "der Lauf des Lebens ..., nicht der Untergang, vielmehr der Glaube an das Gute, der keine Utopie sein darf" besungen. Die dichterischen Worte des Komponisten lassen in den einzelnen Abschnitten ("Trennung", "Traumbilder", "Wiedergeburt" und "Nachklang") kaum ein Klischee dunkler Rätsel und mystischer Verklärung aus, und die Musik illustriert die Verblasenheit, etwa wenn sich die "Adlerschwingen... zum Schutz der Königskinder" ausbreiten und sich auch Chor und Orchester majestätisch breit aufspielen, als ginge es um das schönste Geheimnis hinter den Türen in "Herzog Blaubarts Burg".

Über aller Kontemplation hat Paul Engel vergessen, daß Musik erst aus ihren Kontrasten zu leben beginnt. So ist diese 3. Symphonie eine Art frommer Andacht, die sich einspinnt in sich selbst, anstatt ihr Anliegen mit aller Entschiedenheit vors Ohr des Hörers zu tragen. Das ORF-Orchester und ORF- und Schönberg-Chor (Einstudierung: Erwin Ortner) haben unter Lothar Zagroseks korrekter, untadeliger Leitung wahrscheinlich ebenso korrekt und untadelig gespielt; Paul Wolfrum, der Bariton-Solist, hat sich am Beginn des dritten Satzes mühsam einen Weg durch die Orchestermassen gebahnt und ist noch rechtzeitig zu seinem Einsatz am Pullt angekommen, wo er drei vierzeilige Strophen tapfer sang.

Vielleicht war es auch unfair, Paul Engels neues Werk mit zwei letzten Stücken zu konfrontieren: den radikal reduzierten Orchesterskizzen "Stille und Umkehr" von Bernd Alois Zimmermann, die über einem permanent durchgehaltenen Ton nur aus zartem Rhythmus und subtilsten Farbtupfern bestehen, und der "Gesangsszene" für Bariton und Orchester von Karl Amadeus Hartmann. Dieser "Schwanengesang" ist tatsächlich ein erschütterndes Stück vom Grauen dieser Welt (auf Texte von Giraudoux), eine Anklage gegen die Gewissenlosigkeit, expressiv und aufwühlend, zumal Dietrich Fischer-Dieskau, der schon vor zwanzig Jahren die Uraufführung mitgestaltet hat, alle Facetten des Singens und des Ausdrucks ins Spiel bringen konnte, um der Wiedergabe (vom ORF-Orchester durchaus flammend vorgetragen) exemplarischen Rang zu sichern. Zwischen Musik und Musik ist eben doch ein Unterschied.

Karl Harb


    

     Abendzeitung, München, 13. August 1984     

"Im Wendekreis" fehlten eigene Visionen

Felsenreitschule: ORF-Orchester präsentierte Paul-Engel-Uraufführung

     

Das 4. Orchesterkonzert der Salzburger Festspiele bestritt der ORF mit hauseigenem Chor und Orchester, dazu Dietrich Fischer-Dieskau und Paul Wolfrum sowie der Arnold-Schönberg-Chor. Choreinstudierung: Erwin Ortner, Gesamtleitung: Lothar Zagrosek, Inhalt: Musik des 20. Jahrhunderts.

[...]

Es folgte das letzte, unvollendete Werk von Karl Amadeus Hartmann: Gesangsszene für Bariton und Orchester zu Worten aus "Sodom und Gomorrha" von Jean Giraudoux, vorzüglich ins Deutsche übertragen von W.M. Treislinger und Gerda von Uslar. Den Solopart hatte – wie schon bei der Uraufführung vor 20 Jahren – Dietrich Fischer-Dieskau übernommen. Das 20-Minuten-Stück wurde zum Höhepunkt des Abends: eine meisterliche, ausdrucksstarke Partitur, von Sänger, Orchester und Dirigent optimal realisiert.

[...]

H. R. Stracke

zurück zur Übersicht 1984
zurück zur Übersicht Kalendarium