Zum Liederabend am 18. September 1984 in Berlin


    

     Tagesspiegel, Berlin, 20. September 1984     

Wiederentdeckung eines Dichters

Dehmel-Lieder mit Fischer-Dieskau und Aribert Reimann

     

Für den Aufbruchsgeist im Berlin der Jahrhundertwende ist kein Dichter so charakteristisch wie Richard Dehmel, dessen Gedichtbände "Zwei Menschen" und "Weib und Welt" einst in riesigen Auflagen verbreitet waren. Der früher über-, heute aber unterschätzte Dichter war ein Sprachrohr seiner Zeit. In Dehmels Person bündelten sich alle jene Momente, die den Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert beschleunigen halfen: die naturwissenschaftlich-materialistische Weltanschauung und der Idealismus eines Nietzsche, soziales, ja sozialistisches Interesse und die Erneuerung der Moralvorstellungen, die Bewunderung der Großstadt und der Drang in die Natur. In Berlin sammelten sich solche Bestrebungen im Friedrichshagener Kreis am Müggelsee, in dem Dehmel, der Hauptvertreter der literarischen Moderne, mit den Gebrüdern Hardt, mit Bruno Wille, August Strindberg, Frank Wedekind, dem Sozialisten Gustav Landauer und vielen anderen aufrührerischen Geistern verkehrte.

"Leben, Kunst und Wissenschaft sind mir gleichermaßen reizvoll", schrieb Dehmel 1896 in einer autobiographischen Skizze. "Wenn ich nicht ein Dichter wäre, würde ich mich als Kulturphilosoph betätigen, das heißt aus Psychologie, Physiologie, Biologie, Soziologie und Technologie eine neue Gesamtwissenschaft über die Menschheit zu entwickeln suchen." Er fügte hinzu: "Für Musik bin ich äußerst empfänglich." Auch die Komponisten waren empfänglich für Dehmels Gedichte, die allein bis 1913 mehr als 550mal vertont wurden. Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann nahmen das Festwochenthema zum Anlaß, um mit einer repräsentativen und hochinteressanten Auswahl von Dehmel-Liedern an diese musikalisch-literarische Aufbruchsbewegung zu erinnern.

Für Dehmel begann die Befreiung der Gesellschaft beim Individuum, bei der Befreiung der Liebe und Sinnlichkeit. Seine Gedichte, die Gefühle sehr unmittelbar wiedergeben, riefen bei vielen Komponisten neue Klangfarbenwirkungen hervor, so bei Karol Szymanowski ("Stimme im Dunkeln"), bei Max Reger ("Waldseligkeit") oder Arnold Schönberg ("Erwartung"), wobei diese neuen Klangfarben häufig in drängende Accerlerandi einmünden, am deutlichsten wohl in Alexander von Zemlinskys "Entbietung" aus Opus 7, in der die Leidenschaft in allen Phasen aufglüht. An Deutlichkeit fehlt es auch nicht in Schönbergs "Warnung", in der sich Eifersucht hinter Ironie verbirgt.

Daneben gibt es aber auch noch den anderen Dehmel, den Dichter sozialer Großstadtpoesie – tatsächlich hat in der Arbeiterbewegung die Dehmel-Begeisterung noch am längsten nachgewirkt -, auch den Dichter kosmischer Trauer. Beispiel dafür waren Hans Pfitzners Komposition eines der meistvertonten Dehmel-Gedichte, "Die stille Stadt", womit Elberfeld gemeint war, sowie der homophon angelegte Gesang "Immer wieder" von Conrad Ansorge, dem von Dehmel meistgeschätzten Komponisten. Nicht an der sinnlichen, sondern an der mystisch-kosmischen Seite Dehmels entzündete sich Anton Webern in seinen sieben Dehmel-Liedern, die schon bis an die Grenzen der Atonalität vorstoßen.

Man weiß, wie intensiv sich der große Sänger Dietrich Fischer-Dieskau auch mit den Textdichtern der von ihm gesungenen Lieder auseinandersetzt. Von seinem Verständnis für Dehmel sprach nicht nur ein wohlformulierter Essay, sondern auch sein leidenschaftlicher Einsatz für die Gesänge, bei denen er Aribert Reimann immer wieder zu neuen Accelerandi antrieb. Grandios und feurig geriet die Steigerung in Zemlinskys "Entbietung", während mir die emotionalen Ausbrüche bei den Ansorge- und Webern-Liedern eine Spur überzogen erschienen.

Als eine bedeutsame Entdeckung muß das groß angelegte zwanzigminütige "Notturno" hervorgehoben werden, das der bislang nur als Pianist bekanntgewordene Artur Schnabel 1914 komponierte. Das ausgedehnte Gedicht ist ein Traumprotokoll wie Schönbergs "Erwartung" und "Glückliche Hand", die Erinnerung an einen Jugendfreund, der im Selbstmord endete. Wie in Schönbergs epochalen Kompositionen bringt auch Schnabels Musik, die klanglich teilweise an Skrjabin und Szymanowski, teilweise auch schon an Messiaen gemahnt, das Schwanken der Gefühle unmittelbar und frei von allen Konventionen der Tonalität zum Ausdruck. Die Akkordik, die Aribert Reimann mit wundervoll farbiger Nuancierungskunst zur Wirkung brachte, ist Schnabels wichtigstes Darstellungmittel, während die Singstimme, von Dietrich Fischer-Dieskau ganz aus der Sprache und dem Sprechgesang heraus intensiv und modulationsreich interpretiert, sehr dicht dem Text folgt. Ein hochinteressantes Werk in fesselnder Wiedergabe.

Interessant war es, Dehmels "Notturno" auch noch in einer anderen Vertonung zu hören. Richard Strauss hat das Gedicht fünfzehn Jahre vor Schnabel konventioneller, mehr im Sinne einer nostalgischen Jugenderinnerung vertont, wobei das "Flehende Lied" des Jugendfreundes wie im Gedicht auch wirklich von einer Geige, gespielt von Kolja Blacher, vorgetragen wurde.

Albrecht Dümling

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     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. September 1984     

Uraufführungen bei den Berliner Festwochen

Von Christbäumen, Krokodilen und geschminkten Leichen

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Zuletzt sei noch eine Uraufführung angemerkt, die sich versteckt in einem schönen Zyklus von Liedern auf Texte Dehmels fand: ein "Notturno" (1914) des Pianisten und einflußreichen Musikers Artur Schnabel: Ein Werk, das sich im Klavierpart vor allem in Mussorgsky- und Debussy-Tönen ausspricht. Dietrich Fischer-Dieskau, der das Riesenprogramm von Dehmel-Liedern von Zemlinsky, Schönberg und Webern, von Ansorge, Reger, Pfitzner, Szymanowski und Strauss in der Akademie mit Bravour bewältigte, interpretierte diese Schnabel-Novität besonders innig. Ein ungelenkes Werk vielleicht, aber eines, das Ausdrucksakzente von besonderem Reiz zu setzen vermag und auch durch die letzte Komposition des Konzerts, durch die Strauss-Vertonung des "Notturno", nicht überholt werden konnte. Aribert Reimann begleitete kongenial; im Strauss-Lied war eine Violine zu hören, der man überrascht lauschte. Es war die Geige Kolja Blachers.

Wolfgang Burde

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