Zum Konzert am 20. Oktober 1984 in Hamburg


Hamburger Abendblatt, 22. Oktober 1984

Widerhall aus anderen Welten

Philharmoniker-Chef Hans Zender macht es seinem Publikum nicht leicht. Aber er will es führen und überzeugen und scheut keine Mühe der Vorbereitung. Das Programm des 3. Philharmonischen Konzerts war wirklich ein "Programm" - ein Plädoyer nach einem konstruktiven Konzept.

Wer hätte es je gewagt, Bruckner mit Komponisten des 20. Jahrhunderts zu koppeln? Zender entschied sich für "Les Offrandes Oubliées" - ein Werk des Hamburger Bachpreisträgers Messiaen, der schon als 20jähriger seine völlig eigene harmonische Sprache in freischwebenden Rhythmen fand, immer auf der Suche nach einer "Musik, die die göttlichen und übernatürlichen Geheimnisse ausdrückt". Diese symphonische Meditation bezieht sich auf Kreuz, Sünde und Abendmahlsfeier; sie ist in jedem Teil auch emotional, stimmungshaft - als bohrender Schmerz, gehetzte Unrast, herb-süße Zartheit (Zender nannte den letzten Teil sogar engelhaft) - nachzuempfinden.

Danach der große Unbekannte, Außenseiter und Nonkonformist Edgar Varèse (1883-1965), den alle modernen Komponisten um seine Spontaneität der Klang-Erfindung, seine Aggressivität und Sprengkraft beneiden. Er würde das Publikum wohl gründlich verschreckt haben, wenn nicht die künstlerische Autorität eines Dietrich Fischer-Dieskau dahinter gestanden hätte, der als Solist des Gebets "Ecuatorial" dem Werk Größe und Würde verlieh. Wie "ein mythischer Orkan" (Boulez) klang dieses grelle indianische Beschwörungsritual, dessen magisch-archaische Atmosphäre von 8 Blechbläsern, 6 Schlagzeugern, Klavier, Orgel und zwei Ondes Martenot (elektronische Instrumente) erzeugt wurde. Die explosive Schroffheit dieser Musik verwandelte sich durch die ungeheure Ekstase, das rasend exaltierte Flehen der Singstimme zu etwas Verstörend-Besonderem.

Das monumentale Finale: Bruckners IX. Die erstaunliche Modernität der Originalfassung (drei Sätze) kam in Zenders herb-kantiger Interpretation so aufregend zur Geltung, daß man sich in dieser "dem lieben Gott" geweihten Sinfonie vor lauter Struktur-Hören, dissonanten Zerrungen und schonungslosen Enthüllungen dämonischer Urgründe erst im Adagio von den hingebungsvoll spielenden Philharmonikern in eine andere Welt entrücken ließ.

Sabine Tomzig


   

    Die Welt, 24. Oktober 1984     

Ein ungewöhnlicher und denkwürdiger Konzertabend:
Zenders Philharmonisches Konzert mit Fischer-Dieskau als Solisten

    

Von den ekstatischen Bekenntnissen zweier Gottsucher

 

Wenn es einen Preis für Programmgestaltung gäbe, müßte man ihn Hans Zender für die Werkkombinationen dieses Philharmonischen Konzerts zuerkennen. Ihm gelang eine sinfonische Zusammenschau von seltener geistiger Schönheit. Zwei musikalische Mystiker reichten sich über die Schwelle zum 20. Jahrhundert hinweg die Hand, beide Katholiken, Organisten und Kantoren von Haus aus: Anton Bruckner und Olivier Messiaen, grundverschieden und doch in manchem verwandt, vor allem darin einig, daß sie ihre Musik als Gotteslob verstehen.

Bruckners 9. Sinfonie und Messiaens Orchesterwerk "Les Offrandes Oubliées" schlossen in der Musikhalle die Kantate "Ecuatorial" von Edgar Varèse ein: Das Werk dieses einsamen "Wilden" der Neuen Musik, dieses Anti-Systematikers par excellence mit dem skrupelhaftesten Verantwortungsbewußtsein für sein kompositorisches Tun, erklang also einbezogen in den von Zender gestifteten philharmonischen Bund der Gottsucher. Bei der Interpretation dieses Gebets aus dem "Popul Vuh", dem heiligen Buch der Maya Quiché in Guatemala, vollbrachte Fischer-Dieskau Außerordentliches. Die Anrufung des lebensspendenden Geistes des Himmels und der Erde klang wie vom Anhauch einer übersinnlichen Ekstase getragen.

Da sang nicht der "Star" Fischer-Dieskau gegen die Posaunen- und Trompeten-Phalanx und die umrahmende Begleitung von Orgelklängen und teils animalisch, teils menschlich erscheinenden Geisterstimmen zweier "Ondes Martenot" an - da verwandelte sich der Sänger in einen "Pater Ecstaticus".

Hans Zender waltete über dem innerlich explosiven Varèse-Werk mit der aktiven Ruhe eines Sprengmeisters, der gelassen dem Zeitpunkt entgegensieht, wo die Minen springen. Sein Wartenkönnen im Einschwingen auf den rechten Moment der Zündung hatte die Kraft des langen Atems, die fürsorgliche Geduld des Reifenlassens, die Unermüdlichkeit einer weitschauenden gestalterischen Energie. Zender vermochte die "Opfergaben" Messiaens derart hingebungsvoll darzubringen, daß man sich zumal in den von den philharmonischen Geigern so suggestiv wie nur denkbar intonierten Sphärenklängen des Abgesangs wie in höhere Regionen versetzt glauben konnte.

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Georg Borchardt

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